Rebus - 09 - Die Sünden der Väter
wem hat er den Brief schreiben lassen?« »Warum sollte er uns warnen? Warum hat er sie sich nicht einfach geschnappt?«
»Was steht eigentlich in dem Brief?« Da fiel Rebus ein, dass sie sich ganz in der Nähe der Universität befanden. Er zog Dr. Colquhouns Karte aus der Tasche und wählte dessen Büronummer. Colquhoun war da. Rebus las ihm die Mitteilung vor, buchstabierte einzelne Wörter.
»Klingt wie Adressen«, sagte Colquhoun. »Nichts, was man übersetzen könnte.«
»Adressen? Sind da irgendwelche Ortsnamen dabei?«
»Ich glaube nicht.«
»Sir, wenn sie transportfähig ist, nehmen wir sie mit nach Fettes... könnten Sie dorthin kommen? Es ist wichtig.«
»Bei Ihnen ist immer alles wichtig.«
»Ja, Sir, aber das ist wichtig. Candice könnte in Lebensgefahr schweben.« Colquhoun ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Tja, in dem Fall...«
»Ich schicke Ihnen einen Wagen vorbei.«
Nach einer Stunde war sie so weit wiederhergestellt, dass sie fahren konnten. »Die Schnitte sind nicht allzu tief«, erklärte der Arzt. »Nicht lebensgefährlich.«
»Das war auch nicht ihre Absicht.« Rebus wandte sich zu Ormiston. »Sie glaubt, dass sie wieder zu Telford kommt, deswegen hat sie das getan. Sie weiß , dass sie wieder zu Telford kommt.«
Candice sah so aus, als habe sie keinen Tropfen Blut mehr im Leib. Ihr Gesicht wirkte noch ausgezehrter als vorher, ihre Augen dunkler. Rebus versuchte sich zu erinnern, wie ihr Lächeln aussah. Sie hielt die Arme schützend vor der Brust verschränkt und wich seinem Blick aus. Rebus hatte ein solches Verhalten schon wiederholt bei festgenommenen Verdächtigen gesehen: Menschen, für die die ganze Welt zu einer Falle geworden war.
In Fettes wurden sie bereits von Claverhouse und Colquhoun erwartet. Rebus zog Brief und Foto hervor.
»Wie ich sagte, Inspector«, stellte Colquhoun fest, »Adressen.«
»Fragen Sie sie, was sie bedeuten«, verlangte Claverhouse.
Sie waren wieder im selben Vernehmungsraum. Candice wusste, wo ihr Platz war, und hatte sich schon hingesetzt, an den noch immer verschränkten Armen Mullbinden und rosa Heftpflaster. Colquhoun fragte, aber sie ignorierte ihn. Candice starrte mit unbewegter Miene auf die gegenüberliegende Wand und schaukelte nur leicht vor und zurück.
»Fragen Sie sie noch einmal«, sagte Claverhouse. Aber Rebus unterbrach, noch ehe Colquhoun anfangen konnte.
»Fragen Sie sie, ob dort Bekannte von ihr wohnen, Menschen, die ihr etwas bedeuten.«
Als Colquhoun die Frage formulierte, nahm das Schaukeln ein wenig an Intensität zu. Ihre Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt.
»Ihre Eltern? Geschwister?«
Colquhoun übersetzte. Candice versuchte, das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken.
»Vielleicht hat sie ein Kind zurückgelassen...«
Als Colquhoun fragte, schoss Candice kreischend von ihrem Stuhl auf. Ormiston versuchte sie zu packen, aber sie trat nach ihm. Als sie sich beruhigt hatte, fiel sie in einer Ecke des Zimmers in sich zusammen und verschränkte die Arme über dem Kopf.
»Sie wird uns überhaupt nichts sagen«, übersetzte Colquhoun. »Es sei dumm von ihr gewesen, uns zu glauben. Sie will jetzt nur weg. Es gibt nichts, womit sie uns helfen könnte.«
Rebus und Claverhouse tauschten einen Blick.
»Wir können sie nicht festhalten, John - nicht, wenn sie gehen will. Es war schon heikel genug, dass wir ihr keinen Anwalt besorgt haben. Wenn sie erst mal den Wunsch zu gehen äußert...«
»Kommen Sie schon, Mann«, zischte Rebus, »sie macht sich in die Hose vor Angst, und das mit gutem Grund. Und jetzt, wo Sie alles aus ihr rausgeholt haben, was sie zu bieten hat, wollen Sie sie einfach wieder Telford ausliefern?«
»Hören Sie, es geht nicht darum -«
»Er wird sie umbringen, das wissen Sie so gut wie ich.«
»Wenn er sie umbringen wollte, dann war sie schon tot.« Claverhouse schwieg einen Moment. »So dumm ist er nicht. Er weiß verdammt genau, dass er ihr lediglich einen Schrecken einzujagen brauchte. Er kennt sie. Es schmeckt mir genauso wenig wie Ihnen, aber was können wir denn tun?«
»Sie einfach ein paar Tage länger hier behalten, zusehen, ob wir nicht...«
»Ob wir nicht was? Wollen Sie sie der Einwanderungsbehörde übergeben?«
»Das wäre eine Idee. Dass sie bloß hier rauskommt.«
Claverhouse ließ sich das durch den Kopf gehen, wandte sich dann zu Colquhoun. »Fragen Sie sie, ob sie wieder nach Sarajevo möchte.«
Colquhoun fragte. Tränenerstickt nuschelte sie irgendeine
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