Rechtsdruck
gesehen hat. Er hat einen Schock und
sitzt zitternd und weinend in seiner Wohnung im fünften Stock. «
Lenz schluckte. »So schlimm?«
Die junge Frau nickte. »Ich habe nur ganz kurz einen Blick in den Flur
geworfen, wo der Junge liegt, das hat mir gereicht. In der Küche sieht es nach Aussage
der Kollegen noch viel schlimmer aus.«
Lenz fragte sich für einen Augenblick, in wie vielen Nächten er schon
frierend vor Häusern wie diesem gestanden hatte, wo im Innern in irgendeiner Wohnung
eine oder mehrere Leichen lagen.
»Alles klar, Paul?«, wollte Thilo Hain wissen.
»Ja, natürlich, alles klar. Ist die medizinische Abteilung schon da?«,
wandte sich der Hauptkommissar wieder an die Polizistin.
»Die nicht, wohl aber die Herren von der Spurensicherung«, erwiderte
sie mit einem leichten Grinsen. »Der Kollege Kostkamp sieht allerdings maximal genervt
aus.«
»War das jemals anders?«, gab Hain zurück und drängte sich an den Uniformierten
vorbei in den Hausflur.
»Im dritten Stock«, rief Evelyn Brede ihnen noch hinterher.
Diesen nett gemeinten Hinweis hätten die Beamten nicht gebraucht. Auf
dem Absatz des dritten Stocks standen zwei Beamte, die dafür sorgen sollten, dass
sich niemand Unbefugtes dort herumtrieb, doch dieser Aufwand war definitiv übertrieben.
Anders als in anderen Häusern, in denen ein Kapitalverbrechen stattgefunden hatte,
war hier niemand zu sehen. Unten, auf der Straße nicht und auch nicht im Haus. Während
des Aufstiegs hatte Lenz in jedem Stockwerk einen Blick auf die Klingelschilder
geworfen, und alle Namen darauf klangen türkisch.
Im Eingangsbereich um die Wohnungstür herum standen mehrere kleine
Kunststoffdreiecke mit Nummern darauf. Lenz und Hain blieben stehen und betrachteten
die tiefdunkle Blutlache, die sich unter dem alten Holz der Tür hindurch ausgebreitet
hatte.
»Merkwürdig«, fiel Hain auf, »dass es keine Stufe oder kleinen Absatz
gibt. Da hat es doch bestimmt drunter durchgezogen wie Hechtsuppe.«
Lenz umkurvte die rote Pfütze und trat in den Flur, wo direkt neben
der Tür die Leiche eines Jungen lag, dessen aufgerissene, leere Augen einen imaginären
Punkt an der Decke zu fixieren schienen. Sein Körper ragte in den vom Flur abgehenden
Raum, der allem Augenschein nach sein Jugendzimmer war. Der Kopf des Kindes stand
in einem merkwürdigen Winkel vom Brustkorb ab. In der Mitte seiner Stirn gab es
ein hässliches Einschussloch.
»Er lag dem Mörder im Weg, als dieser raus wollte«, konstatierte Lenz.
»Hm«, machte sein Kollege. »Wie alt wird der sein?«
Der Hauptkommissar beugte sich ein wenig nach unten, um das Gesicht
besser erkennen zu können. »12, vielleicht 14, nicht älter.«
»Manchmal wünschte ich mir, ich hätte auf den Rat meiner Großmutter
gehört und eine Banklehre gemacht«, sinnierte Hain mit belegter Stimme. »Im Augenblick
ist dieser Wunsch gerade wieder sehr, sehr ausgeprägt.«
»Ah, die Herren Ermittler«, hörten sie eine vertraute Tonlage vom hinteren
Ende des Flurs. Sie gehörte zu Heini Kostkamp, dem Leiter der Spurensicherung. Der
rundliche Mann mit dem roten Gesicht trat aus dem Raum, in dem er seiner Arbeit
nachging, und fing beim Anblick der beiden sofort an zu fluchen.
»Seid ihr wahnsinnig?«, wollte er wissen, obwohl ihn die Antwort nicht
im Mindesten interessierte. »Zieht euch wenigstens was über die Füße, bevor ihr
hier rumlatscht.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Dass ich diese Litanei jedes
Mal, wenn ich euch an einem Tatort sehe, wiederholen muss«, fuhr er beleidigt fort.
Hain kramte zwei Paar blaue Füßlinge aus seiner Jackentasche, riss
die Verpackung auf, und hielt Lenz ein Paar hin. Der Hauptkommissar schlüpfte umständlich
mit den Schuhen hinein und quittierte seine Aktion mit einem Lächeln in Kostkamps
Richtung.
»Na bitte, geht doch«, kommentierte der Mann von der Spurensicherung.
»Wir lieben dich auch, Heini«, ätzte Hain, doch Lenz gab ihm mit einem
kurzen Blick zu verstehen, dass es im Moment wohl angebracht sein könnte, das Feuer,
das grell in Kostkamp loderte, nicht noch mit Öl zu tränken.
»Moin, Heini«, rief Lenz freundlich über den Flur. »Und sei nicht so
streng mit uns.«
Vom anderen Ende kam ein langgezogenes Stöhnen. »Womit hab ich das
nur verdient?«, fragte der Spurensicherer mehr rhetorisch.
Lenz und Hain stapften mit raschelnden Füßen auf ihn zu, drückten ihm
die Hand, sahen in den Raum, aus dem er gekommen war, und begrüßten einen weiteren
Mann im
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