Rechtsdruck
stand.
»Machen Sie doch auf, ich habe Sie ohnehin gesehen.«
Hinter ihm kam Lenz langsam die Treppe herunter. »Lass gut sein, Thilo«,
flüsterte er, als wolle er damit einen Kontrapunkt zum lauten Auftreten seines Kollegen
setzen, »wenn Sie nicht wollen, können wir …«
Er stockte, weil sich in diesem Moment die Tür langsam nach innen bewegte
und der Kopf einer jungen Frau sichtbar wurde.
»Bitte nix so laut«, flüsterte sie und legte dabei den linken Zeigefinger
vor den Mund, »meine kleine Kind schlafen.«
Hain hob entschuldigend die Hände. »Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört
habe, und ich wollte auch ganz bestimmt Ihr Kind nicht wecken. Aber ich habe gesehen,
dass Sie in den Flur geschaut haben.«
Die Frau nickte. »So laut hier. Sonst nix so laut in Nacht.« Sie sah
die beiden Kripobeamten an. »Sie Polizei? Was passiert?«
Lenz musterte die Frau so unauffällig wie möglich. Sie war etwa 19
Jahre alt, trug ein gelbes Kopftuch, und war trotz der unchristlichen Uhrzeit tadellos
gekleidet. Aus ihrem hübschen Gesicht leuchteten zwei wache, intelligente Augen.
»Sozusagen, ja«, bestätigte Hain. »Sie sind Frau …?«
»Nasit«, antwortete sie mit einem Fingerzeig auf das provisorisch aussehende
Schild an der Klingel. »Frau Nasit.«
»Ja, Frau Nasit«, bestätigte Lenz, »es gab heute Nacht eine Gewalttat
hier im Haus. Kennen Sie die Familie …?« Er stockte.
»Bilgin«, half sein Kollege ihm weiter.
»Kennen Sie die Familie Bilgin?«
»Was los mit Familie Bilgin?«, fragte sie erschrocken zurück.
Der Hauptkommissar zögerte einen Augenblick. »Dürfen wir kurz hereinkommen,
Frau Nasit?«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nix hereinkommen. Meine Mann
nix zu Hause.«
»Aber …«, wollte Hain etwas entgegnen, wurde jedoch von seinem Chef
unterbrochen.
»Das macht gar nichts, Frau Nasit. Wir müssen nicht zu Ihnen in die
Wohnung kommen. Wir können uns auch gerne im Treppenhaus unterhalten. Obwohl es
ganz schön kalt ist hier draußen.«
»Ja, kalt hier«, stimmte sie ihm zu, und Lenz konnte sich des Eindrucks
nicht erwehren, dass die Frau den Inhalt dessen, was er ihr gesagt hatte, nicht
so richtig verstanden hatte.
»Also«, begann er langsam, »Sie kannten die Familie Bilgin.«
Ein Nicken. »Ich kennen, ja.«
»Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass die Familie Bilgin heute
Nacht getötet worden ist.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was bedeuten getöten?«
Lenz holte tief Luft. »Sie sind tot. Nicht mehr am Leben.«
Nun hatte Frau Nasit ihn verstanden. Sie riss die Augen auf und schlug
sich im Anschluss die Hände vors Gesicht. »Wie tot? Vater tot?«
»Nein, sie sind alle nicht mehr am Leben«, korrigierte Lenz. »Vater
tot, Mutter tot, Sohn tot.«
»Aber heute sehen. Mittag sehen, unten in Werkstatt.«
»Wen von der Familie haben Sie heute Mittag gesehen?«
Sie sah den Polizisten fragend an.
»Haben Sie den Vater gesehen? Oder die Mutter?«
»Alle. Alle in Werkstatt. Mittag.«
»Die ganze Familie war also heute Mittag in der Werkstatt?«
Sie nickte.
»War sonst noch jemand dort? Haben Sie außer den Bilgins sonst noch
jemanden gesehen?«
»Nix anderes. Nur Familie. Aber viel laut. Abend laut. Viel schimpfen.«
Nun wurden die beiden Polizisten hellhörig.
»Was meinen Sie mit laut und schimpfen? Gab es heute Abend Streit bei
den Bilgins?«
Wieder nickte sie. »Ja, ganz Streit. Und laut schimpfen.«
»Wer hat laut geschimpft? Der Vater?«
»Ja, Vater. Und anderes Sohn.«
»In der Wohnung lebt noch ein Sohn?«
Frau Nasit machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger. »Nix hier wohnen.
Andere Haus. Aber heute hier sein.«
»Wissen Sie, wie der andere Sohn heißt? Seinen Namen?«
Der Hauptkommissar buchstabierte nun fast seine Sätze, damit die Frau
wenigstens eine Chance hatte, ihn halbwegs zu verstehen.
»Nix wissen. Nix oft hier.«
»Wie alt ist er?«, erkundigte sich Hain, der nun seinen Notizblock
in der Hand hielt.
»Viel alt. Viel mehr alt Emre.«
»Er ist viel älter als Emre, der Junge, der mit seinen Eltern hier
im Haus gelebt hat?«
»Viel alt, ja.«
»So alt wie mein Kollege?«, hakte Lenz mit einem Hinweis auf Hain nach.
Sie wog unsicher ab und zuckte erneut mit den Schultern. »So viel alt,
ja.«
»Wissen Sie, wann der andere Sohn gegangen ist? Fortgegangen?«
»Nix wissen. Meine Mann heim, meine Kind heim, ich nix hören mehr.«
Lenz deutete auf seine Armbanduhr. »Und um wieviel Uhr war der Streit
bei den
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