Rechtsdruck
angekommen drehte er
sich nach links, in Richtung des Seitenausgangs, wo sein Wagen parkte, doch Bärsch
hatte offenbar mit dieser Finte gerechnet. Er bewegte sich mit seinem Rollstuhl
blitzartig nach vorne und wurde dabei viel schneller, als er eigentlich beabsichtigt
hatte. Genau in dem Augenblick, in dem er versuchte, die aufgenommene Geschwindigkeit
zu drosseln, bekam er noch einen Stoß von hinten. Es passierte, was nicht zu vermeiden
war: die beiden Juristen kollidierten. Gebauer schlug der Länge nach hin, der Inhalt
seiner Tasche verteilte sich über mehrere Quadratmeter; Bärsch wurde aus seinem
Stuhl katapultiert und stürzte mit einem spitzen Schrei zu Boden. Das alles passierte,
wie sich ein Zeuge später erinnerte, so rasend schnell, dass man dem Geschehen kaum
folgen konnte. Auf jeden Fall lagen die beiden nebeneinander auf dem kalten Marmor
des Foyers der Kasseler Stadthalle. Gebauer, dessen rechter Fuß an einem Trittbrett
des Rollstuhls hängen geblieben war und der sich eine tiefe, sofort stark blutende
Fleischwunde am Knöchel zugezogen hatte, kam vor Wut schnaubend auf die Knie und
wollte gerade aufstehen, als er in das immer noch hämisch grinsende Gesicht des
Rollstuhlfahrers blickte. In diesem Moment setzten alle in den vielen Jahren als
Politiker geschulten und geschärften Instinkte bei dem sonst als Iceman verschrienen
Juristen aus. Der Schmerz im Fuß, das grinsende Gesicht seines Gegenübers, die peinliche
Situation, das alles war an diesem Abend und in seiner angespannten Verfassung zu
viel für ihn. Er schrie laut auf, hob den Arm, und schlug Bärsch mit aller Kraft
ins Gesicht.
Noch bevor seine flache Hand Bärschs Wange erreicht hatte, war er sich
über die Tragweite seiner Handlungsweise im Klaren, und doch konnte er nichts mehr
tun, um die Bewegung zu stoppen. Es folgte das hässliche Klatschen, das in seinem
Kopf wie eine Explosion klang, und die daraufhin einsetzende, lähmende Stille. Die
Mehrzahl der Menschen, die eben noch versucht hatten, möglichst schnell aus der
Halle und nach Hause zu kommen, blickten entsetzt in seine Richtung. Manche Frauen
hielten sich schockiert eine Hand vor den Mund, andere schüttelten einfach nur den
Kopf. Dann begann Bärsch zu schreien.
Manchmal kamen Politiker mit den absurdesten Ausreden durch. In diesem
Fall gab es keine Ausrede, die auch nur im Ansatz der Sache gerecht geworden wäre.
Die personifizierte Zukunft der Partei in Hessen, wie es der Ministerpräsident noch
kurz zuvor ausgedrückt hatte, war ausgerastet und hatte einem Behinderten unter
den Augen hunderter Zeugen wutentbrannt ins Gesicht geschlagen.
Die Folgen waren verheerend. Die Medien stürzten sich bundesweit auf
die Geschichte, und seine Herausforderin, die unter normalen Umständen nicht den
Hauch einer Chance gehabt hätte, gewann den Wahlkreis haushoch.
Am Abend des 18. Januar 2009, als seine Partei die vorgezogenen Wahlen
zum Hessischen Landtag souverän gewonnen hatte, saß Justus Gebauer betrunken und
schlecht rasiert im Wohnzimmer seines Hauses im Kasseler Stadtteil Fasanenhof vor
dem Fernseher und konnte noch immer nicht fassen, was dort gerade ablief. Es wollte
nicht in seinen Kopf, dass er nicht strahlender Teilnehmer war in diesen Befragungen,
Talkrunden und Siegesfeiern, sondern isoliert und machtlos zusehen musste, wie andere
den Lohn seiner langen und harten Arbeit einfuhren.
Vonseiten seiner politischen Mitstreiter war ihm nahegelegt worden,
sich zunächst nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen und auf gar keinen Fall für
die Partei zu sprechen, was dem politischen Todesurteil gleichkam.
Nachdem er einen spontanen dreiwöchigen Urlaub beendet hatte, machte
er sich an das Aufkehren der Scherben, die sein Verhalten produziert hatte. Zunächst
hatte er versucht, Andreas Bärsch zu überreden, die Sache außergerichtlich beizulegen,
was jedoch an dessen rigoroser Weigerung scheiterte. Im Frühjahr des gleichen Jahres
war es zum Prozess gekommen, der zuerst ein allgemeines Medienecho und nach Verkündung
des Urteils einen allgemeinen Aufschrei der Empörung ausgelöst hatte. Der Richter
hatte Gebauer nur zu einer Geldstrafe wegen einfacher Körperverletzung verurteilt,
wobei er für die Zukunft jedoch als vorbestraft galt.
7
Lenz nahm ein Mittel gegen das Sodbrennen, das ihn im Schlaf gequält
hatte und immer schlimmer geworden war, schloss hinter sich die Badezimmertür und
wollte das Licht ausschalten, doch wie so häufig in den letzten Wochen
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