Rechtsdruck
nur, weil unser Chef in engem Schulterschluss mit der Staatsanwaltschaft
beschlossen hat, dass der junge Bilgin der Täter zu sein hat.«
»Was könnten wir tun, um ohne großes Tamtam an die Inhaber der Empfängerkonten
zum Beispiel in der Türkei zu kommen?«, wollte Hain wissen.
»Gar nichts. Der Austausch solcher Daten mit der Türkei ist überaus
mühselig, selbst dann, wenn der entsprechende Antrag über die Staatsanwaltschaft
gestellt wird. Unsere Jungs sind da übrigens keinen Deut besser, wie mich mein Wiesbadener
Freund belehrt hat.«
»Und was gedenkst du dagegen zu tun?«, mischte Lenz sich ein.
Gecks fing an zu grinsen. »Ein Freund meines Freundes hat ein paar
Kontakte, die er anzapfen will, aber das dauert ein paar Tage. Bis dahin werde ich
Dienst nach Vorschrift machen und versuchen, mich nicht dabei erwischen zu lassen,
wie ich mich einer Anweisung von Ludger widersetze. Aber da sitzen wir vermutlich
alle im selben Boot.«
»Worauf du einen lassen kannst«, stimmte Hain ihm zu.
»Für heute mache ich Feierabend«, fuhr Gecks mit einem Blick auf seine
Armbanduhr fort, »immerhin ist es schon nach sechs. Morgen früh gehe ich im Klinikum
vorbei und sehe mal, ob mir dieser Neonazi was erzählt, mit dem Kemal Bilgin aneinandergeraten
ist.«
»Liegt der hier in Kassel?«
»Ja. Ich reiße mich übrigens nicht um den Job, weil das einer von den
Unsympathen ist, die damals am Neuenhainer See das Mädchen fast totgeschlagen haben.
Könnt ihr euch an den Fall …?«
»Was sagst du da, RW?«, wurde er von Lenz barsch unterbrochen. »Der
Typ ist einer von den Neonazis vom Neuenhainer See?«
»Was regst du dich denn so …?«
»Kannst du dich an den Namen erinnern, Thilo«, sprach der Hauptkommissar
wieder dazwischen, »den uns Lemmi im Klinikum genannt hat? Der des ominösen Toten?«
»Moment, Moment«, unterbrach nun Gecks seinen Kollegen energisch, »der,
von dem ich spreche, ist nicht tot. Sein Name ist …« Wieder ein Blick in den Notizblock.
»… Gerold Schmitt. Gerold Schmitt aus …«
»Scheiße«, rief Hain dazwischen, »das ist er.«
29
Agata Roggisch legte behutsam die Hand mit dem Waschlappen darin auf
die Stirn ihres Sohnes Victor und tupfte seine Schweißperlen ab. Der Junge lag mit
halb offenen Augen im Bett und starrte apathisch an die Decke. Seine Mutter, die
wusste, dass sie nichts weiter für ihn tun konnte, stand auf, warf ihm noch einen
aufmunternden Blick zu und verließ das Zimmer. In der Küche traf sie auf Vaclav,
den älteren der beiden Jungs.
»Ich muss zur Arbeit«, sagte sie tonlos. »Pass bitte auf deinen Bruder
auf und sieh ab und zu nach ihm. Wenn etwas sein sollte, rufst du mich an.«
»Was soll denn sein«, fragte er schnippisch zurück. »Der liegt im Bett
und bellt vor sich hin. Ob ich nun hier bin oder nicht, spielt doch gar keine Geige.«
»Du bleibst trotzdem zu Hause«, ordnete sie an.
Der Junge nickte. »Wenn du meinst. Aber verlass dich besser nicht drauf.«
Die Krankenschwester hätte gerne den Konflikt mit ihm ausgetragen,
doch ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Also ging sie schweigend zur Haustür und
verließ die Wohnung. In der Straßenbahn, die sie zu ihrem Nachtdienst im Klinikum
Kassel brachte, saß sie in der letzten Reihe des nahezu leeren Waggons und weinte.
Eine gute halbe Stunde später war die Übergabe beendet und die Spätschicht der Station
auf dem Heimweg. Viel Neues hatte es nicht gegeben, bis auf den frisch operierten
Patienten in Zimmer 216, vor dessen Tür ein Polizist saß und interessiert in einem
Automagazin blätterte.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte die Nachtschwester den Mann höflich,
als sie an ihm vorbei ging.
»Nein, lassen Sie mal«, antwortete der Beamte, auf dessen Brust ein
kleines, silbernes Schild mit dem Namen Obermann darauf zu sehen war.
»Ich habe noch eine knappe Stunde, dann kommt die Ablösung, und danach
bin ich zum Essen verabredet. Bis dahin halte ich es gut aus.«
»Das klingt gut«, lachte sie und drehte sich um. »Ich wünsche Ihnen
einen schönen Abend.«
»Vielen Dank. Den kann ich gut gebrauchen, nach diesem langweiligen
Nachmittag hier vor der Tür.«
Die 37-jährige Frau ging mit schnellen Schritten davon und war kurz
darauf in einem Zimmer am Ende des Flures verschwunden. Obermann warf einen Blick
auf die Uhr an seinem Handgelenk, gähnte, senkte den Kopf und wandte sich wieder
seiner Lektüre zu. In der gleichen Stellung saß er auch etwa 15 Minuten später noch
vor der Tür
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