Rechtsdruck
er sich
in weniger als einer Stunde treffen wollte, tauchte blitzartig vor seinem geistigen
Auge auf und verschwand ebenso schnell wieder.
Nun hatte der Schalldämpfer seine Stirn erreicht. Obermann erschrak,
jedoch nicht wegen des Kontakts, sondern weil das Material, das ihn berührte, sich
auf seiner Haut nicht kalt anfühlte. Ganz im Gegenteil, es strahlte geradezu Wärme
aus.
Einer dieser modernen Carbonschalldämpfer, schoss es ihm durch den
Kopf. So etwas wird garantiert nur von Profis benutzt. Etwas drückte ihn am Arm.
Die linke Hand seines Gegenübers.
Der Druck verstärkte sich. Der Mann mit der Waffe in der Hand zog ihn
nach oben. Obermann folgte willig der Aufforderung, und stand keine Sekunde später
dem Mann gegenüber, der einen halben Kopf kleiner war als er selbst, jedoch noch
immer die Pistole direkt auf die Stirn des Polizisten drückte.
Der Beamte wurde durch einen aufgesetzten Schuss
getötet ,
stand in solchen Fällen später im Protokoll.
Nun wurde Obermann nahezu sanft, aber nichtsdestotrotz mit dem notwendigen
Nachdruck nach hinten geschoben, bis er mit dem Rücken an der Tür zu Stemmlers Krankenzimmer
angekommen war. Dann ließ der Druck an seinem Arm nach; die Hand des Mannes vor
ihm senkte sich auf die Türklinke, drückte sie herunter, gab dem schweren Blatt
einen kleinen Schwung und schob den Polizisten durch eine Bewegung mit der Pistole
vor sich her in den Raum.
*
»Aber ich kann doch nie wieder jemandem die Haare schneiden«, jammerte
der Friseur mit der dick verbunden rechten Hand.
Agata Roggisch legte die Stirn in Falten und sah zu dem etwa 50-jährigen
Mann hinunter, über dessen Gesicht dicke Tränen liefen. Zu gerne hätte sie ihm irgendwie
Mut gemacht, doch in diesem speziellen Fall gab es absolut keine Hoffnung. Der Mann
hatte sich den Daumen, den Zeigefinger und den größten Teil des Mittelfingers der
rechten Hand mit der Kreissäge abgeschnitten. Zwar hatte der Handchirurg versucht,
die Überreste wieder anzunähen, doch es war bei dem Versuch geblieben, auch deshalb,
weil der schwer schockierte Mann sich von seiner ebenso schockierten Frau in die
Klinik hatte fahren lassen und keiner der beiden auch nur im Entferntesten daran
gedacht hatte, die abgetrennten Glieder für den Transport ins Krankenhaus zu kühlen.
»Sie sind doch zum Glück noch kein alter Mann«, erwiderte die Nachtschwester,
während sie die Temperatur vom Fieberthermometer ablas. »Natürlich ist es nicht
schön, wenn man so etwas erlebt, aber in Ihrem Alter ist es noch nicht zu spät,
etwas Neues anzufangen.«
Der Patient im Bett neben dem Friseur warf ihr einen pikierten Blick
zu.
»Na, Sie machen dem armen Kerl ja Hoffnung, Schwester Agata«, murmelte
er.
»Warum soll ich ihm denn Hoffnung machen?«, giftete sie zurück. »Die
Finger sind weg, und je schneller er es akzeptiert, desto besser ist es für ihn.«
Der Verletzte riss sich mit der gesunden Hand die Decke über den Kopf
und fing laut an zu schluchzen. Agata Roggisch wäre am liebsten zu ihm gekrochen
und hätte mit ihm zusammen ihr beider Schicksal beweint, denn auch sie fühlte sich,
zumindest im übertragenen Sinn, als hätte man ihr etwas abgehackt. Der eine Sohn
lag mit Fieber zu Hause im Bett, über den anderen, dessen 14. Geburtstag sie gerade
gefeiert hatten, hatte sie längst jegliche Kontrolle verloren. Er kam und ging,
wann es ihm passte. Ein Straßenkind, und sie trug die Hauptschuld daran. Und dann
die Sache mit dem Todesfall von vorletzter Nacht. Wenn sie jetzt auch noch ihren
Job verlieren würde …
Mit zitternden Fingern trug sie den Messwert in eine Tabelle ein und
legte das Blatt wieder ans Fußende des Bettes.
»Ich komme später noch mal rein«, flüsterte sie dem anderen Patienten
zu, der sich jedoch längst wieder dem Fernsehprogramm widmete und ihr deshalb keine
Beachtung mehr schenkte. Mit drei Schritten war sie an der Tür und verschwand aus
dem Zimmer. Auf dem Flur fiel ihr sofort der leere Stuhl gegenüber auf. Sie blieb
stehen und sah sich um, konnte jedoch keinen Hinweis auf den Verbleib des Beamten
finden. Einzig das Automagazin, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen vor dem
abgenutzten Möbelstück. Im gleichen Augenblick, in dem die Nachtschwester sich in
Richtung des Dienstzimmers in Bewegung setzen wollte, öffnete sich die Tür zu Stemmlers
Krankenzimmer und ein in leuchtendes Weiß gekleideter Mann wurde im Neonlicht des
Flures sichtbar. In der Hand trug er einen klobigen, dunklen
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