Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
nicht umhin zu finden, dass das plötzliche Ableben der jungen Salammbô mehr oder weniger beliebig wirkt; die kurze Erklärung im letzten Satz, »weil sie den Mantel der Tanit berührt hatte« (S. 363), erscheint weniger überzeugend als eine Analyse unter Anerkennung der Spannung zwischen dem Autor und seiner Figur.
Die Leser von Salammbô haben es mit einer großen Anzahl gewaltsamer Todesfälle kleiner und großer Personen zu tun. Aber bei Flaubert muss die heroische Gestalt (ob durch antike Helden oder exotische Frauen repräsentiert) immer in besonderer Weise vernichtet werden und lässt als implizite Sieger eine ressentierende Kaste wortgewandter, künstlerischer Gestalten zurück. Die clevere verbale Form, bei Flaubert wie bei Dostojewski fast überreichlich vorhanden, schafft es so, auf der Buchseite sogar gegen den erklärten Willen des Autors den Sieg davonzutragen. Gleichgültig, ob der moderne Romanautor nach eigenem Eingeständnis religiös ist wie Dostojewski, oder ob er wie Flaubert das Heldische lobpreist, letztlich verwirft er seine absolutistische Vision stets zugunsten der überwältigend negativen Einstellung seiner ihr Ressentiment verbal umsetzenden Figuren. Ausgehend von diesem »exotischen«, mit Flauberts zentralem Werk in vollem Einklang stehenden Text ist der Schritt zu den realistischen Juristen des späteren Meisterwerks L’Éducation sentimentale nicht allzu groß.
6 – Juristen und Lügner: L’éducation sentimentale
Eine Auflösung zeichnet sich ab: Zeit ersetzt Charakterzüge
Den Leser, der Flauberts früheres Werk noch frisch in Erinnerung hat und dafür sensibel geworden ist, stellt L’éducation sentimentale vor ein Dilemma. Wie im vorhergehenden Kapitel angesprochen, kann dieser Roman nicht einfach neben Madame Bovary gestellt werden, auch wenn Sainte-Beuve mit ihm der »Rückkehr« zu einem zeitgenössischen französischen Thema applaudiert. [1] Und selbst die exotischeren und ausgefeilteren Passagen können die Atmosphäre von Salammbô nicht wirklich wieder hervorrufen. Vielleicht ist L’éducation sentimentale , wie Lukács zu glauben scheint, einzig in seiner Art, der perfekte Roman der Desillusionierung, der paradigmatische Text des 19. Jahrhunderts. [2]
Gewiss gibt es in diesem Buch Anzeichen für eine Entwicklung hin zu der Objektivität, von der Auerbach vielleicht zu buchstäblich meinte, dass sie in Madame Bovary am Werk war. [3] Das Ressentiment des Autors gegenüber seinem Protagonisten scheint abzunehmen, und die zentrale Bedeutung der Zeit selbst – der nicht moderierte Fluss äußerer Ereignisse – legt nahe, dass Flauberts doppelte Obsession sich aufgelöst hat. [4] Wie Lukács gezeigt hat, wirddie Zeithaftigkeit leidenschaftslos in einer Weise dargestellt, die bei der Schilderung der Lebensspanne einer unglücklichen Frau oder einer gescheiterten antiken Kultur nicht möglich gewesen wäre. Auch das Bild der Frau verliert an Würze, wenn es über die vier Ecken eines im Wesentlichen historischen Romans verteilt wird.
Die frühere, ressentierende Reaktion des Autors auf seine Protagonisten fehlt hier fast völlig. Deutlichstes Anzeichen für diese offenbar positive Metamorphose ist die erfolgreiche Eliminierung der weiblichen Hauptfigur; sie wurde durch einen mittelmäßigen jungen Mann ersetzt. Außerdem haben wir es mit einem lebendigen Schauplatz voller Aktivität zu tun, nicht mehr mit der unbeweglichen Langeweile der Provinzen oder dem Zerfall einer sterbenden Zivilisation. Flaubert scheint mit der Vernichtung von Emma und Salammbô das Element seiner Wünsche überwunden zu haben, das ihn zum »exotischen Weib« hinzog. Durch das gewalttätige Niederschlagen einer alten Kultur mit seinem bürgerlichen Federhalter hat er womöglich auch sein Gefühl beschwichtigt, nicht in der richtigen Zeit zu leben.
In L’éducation sentimentale gibt es Passagen, die wegen ihres Mangels an Spannungen im Widerstreit zwischen Autor und Protagonisten in früheren Romanen wie Madame Bovary undenkbar gewesen wären. Es lohnt sich, zwei repräsentative Textstellen zu vergleichen und zu erläutern, um den Fortschritt des Autors von egozentrischem Ressentiment zu gelassener Gesellschaftssatire besser zu begreifen. Zunächst Madame Bovary :
Sie rief sich alles ins Gedächtnis zurück, ihren Hang zum aufwendigen Lebensstil, die Entbehrungen ihrer Seele, das Elend ihrer Ehe, ihres Familienlebens, ihrer Träume, die in den Dreck gefallen waren wie verwundete Schwalben,
Weitere Kostenlose Bücher