Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
in keiner Weise intellektuell gewachsen ist, findet sie seine Theorien und Geschichten emotional unwiderstehlich. Das geheimnisvolle Vokabular und seine fantastische Vorstellungskraft geben dem Priester eine Art romanhafte Macht über das leicht zu beeindruckende Mädchen, die ihn liebt und zugleich fürchtet. Ihre romantischen Bedürfnisse hat Schahabarim bedachtsam geweckt und genährt; aber da er schon vor langer Zeit kastriert worden war, um zu ihrem hohen Priester ernannt zu werden, kann er nicht mehr als verbale Erregung bewirken. Wenn er mit schwermütigem Blick den Männern folgt, »die sich mit den Priesterinnen im Dunkel des Terebingehölzes verloren« (S. 211), bleibt ihm nur, in Salammbô das sexuelle Begehrenzu wecken, das er selbst weder empfinden noch befriedigen kann. Raffiniert schürt er ihre verborgene Leidenschaft für Mâtho und verbindet damit einen Plan, den gestohlenen Schleier wiederzuerlangen. So wie Spendius den Krieger verbal zum Diebstahl angestiftet hat, flößt der wortgewaltige Priester der Prinzessin die Idee ein, sich Mâtho zu ergeben, um das heilige Objekt wieder in Besitz zu nehmen.
Die anzüglichen Reden des Priesters rufen im jungen Mädchen zunächst eine Art lethargische Träumerei hervor, ähnlich der Madame Bovarys, ehe sie ihre diversen Liebhaber trifft. Ihre Furcht vor Schahabarim und ihrem Vater (der sie wegen seiner eigenen politischen Probleme immer ignoriert hat) trägt zu einer Art Katatonie bei. Doch als die Prinzessin auf ihre Schlange starrt, scheint sie zu erahnen, dass die Schläfrigkeit des Reptils wie ihre eigene ein Potenzial für schnelle Bewegung enthält. Schahabarims romantische Reden haben Salammbô fast in eine aktive Phase versetzt, doch braucht sie noch die Gegenwart der wiederbelebten Schlange, das Bild männlicher Kraft, um sich von der Macht ihres Wunsches zu überzeugen. Der kastrierte Priester mag in diesem Prozess den metaphorischen »Stift« zur Verfügung stellen, doch die erwachte Schlange steht für das »Schwert«.
Die Geschichte erreicht nun ihren dramatischen Höhepunkt. Der Priester präsentiert Salammbô den Python, als wolle er Wünsche wecken, die nur durch eine außenstehende Macht erfüllt werden können. Die Prinzessin bewegt sich wie unter Hypnose zum Rhythmus von Musik und Betgesängen und vollzieht schließlich ihren Bund mit dem geheimnisvollen Reptil:
Grauen vor der Scham oder auch Scham ließ sie anfangs zögern. Dann aber erinnerte sie sich an Schahabarims Befehle, und sie wagte sich vor. […] Salammbô keuchte unter dieser zu schweren Last; ihre Hüften schienen zu brechen, sie fühlte sich dem Sterben nahe; und mit der Schwanzspitze schlug er ihr sanft gegen die Schenkel. Als die Musik schwieg, fiel er von ihr ab. (S. 219)
Sainte-Beuve fühlte sich von dieser Episode geniert und beschloss offenbar, auf ihre immanente Bedeutung für Flauberts narrative Ambitionen nicht weiter einzugehen. Denn ihre eklatante sexuelle Konnotation ist alles andere als beliebig, sondern beabsichtigt und logisch als Erfüllung von Wünschen, die Schahabarim mit seinenAnspielungen ausgelöst hat. Ohne dieses Vorspiel würde der Geschlechtsverkehr mit Mâtho in dessen Zelt nicht stattfinden, der Schleier würde nicht wiedererlangt und die letzte Schlacht bliebe ungeschlagen. Die zentrale Bedeutung dieses Ereignisses – Salammbôs Einswerden mit dem Symbol, das für Männlichkeit und Religion zugleich steht, wird noch deutlicher, wenn man sich an Emma Bovarys dem Tod geweihte physische Vereinigung mit dem »Gott-Menschen« auf ihrem Kruzifix erinnert. Genau wie Emma ihrem mystischen Objekt den » plus grand baiser d’amour qu’elle eût jamais donné « [»den innigsten Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte«] aufpresst, erreicht die karthagische Heldin einen physischen Höhepunkt mit ihrer Schlange. Beide Frauen möchten der gewöhnlichen Welt ihrer Zeit entkommen, in der ihre Bedürfnisse ungestillt geblieben sind. Wie alle sinnlichen Heroinen Flauberts bringen beide in ihre Rollen Träume früherer, heroischer Orte ein. Und anders als alle romantischen, männlichen Protagonisten Flauberts versuchen beide aktiv, ihren Fantasien einen Sinn zu geben, indem sie sinnliche und religiöse Erfahrungen suchen. Dank Flaubert enden die Versuche beider Heroinen jedoch nicht mit einem vollen Erfolg. Schahabarim, der in seiner Ausdrucksfähigkeit Spendius ebenbürtig ist, kann Begehren nur verbal entfachen – eine großartige, persönlich jedoch
Weitere Kostenlose Bücher