Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
alles, was sie ersehnt, alles, worauf sie verzichtet hatte, alles, was sie hätte haben können! Sie begriff den geheimen Zusammenhang nicht. Und warum? Warum? (S. 217)
Emmas quälende Erinnerungen, die Konditionierung ihres Gefühls, gescheitert zu sein und ihre Möglichkeiten vergeudet zu haben, verbinden sie mit Flaubert. Der Vergleich mit den Schwalbenmacht den Leser für eine angeschlagene Erfassung der Wirklichkeit empfänglich, Ausfluss der negativen Selbstwahrnehmung des Autors selbst. Das äußere Leben ist eine ständige Enttäuschung. Emmas Wut wird von der ihres Schöpfers befeuert.
Der Erzählton, der gegenüber Frédéric Moreau in L’Éducation sentimentale angeschlagen wird, unterscheidet sich beträchtlich:
Da packte ihn einer jener Schauder der Seele, in denen man sich in eine höhere Welt entrückt fühlt. Eine außerordentliche Fähigkeit war nun über ihn gekommen, für die er nur noch kein festes Ziel hatte. Ganz ernsthaft fragte er sich, ob er ein großer Maler oder ein großer Dichter sein würde; und er entschied sich für die Malerei, da die praktischen Erfordernisse des Berufes ihn Madame Arnoux näherbringen würden. Er hatte jetzt also seine Berufung empfangen! Nun war das Ziel seines Daseins klar und die Zukunft untrüglich. [5]
Wenn sich feststellen lässt, dass Frédérics Überlegungen einen zukunftsbezogenen Optimismus ausdrücken, während Emma in Gedanken deprimiert noch einmal frühere Fehlschläge an sich vorüberziehen lässt, ist dieser Unterschied an sich schon ein Hinweis auf den Übergang des Autors aus einer ressentierenden in eine nicht ressentierende Phase. Der Protagonist schafft es durchgängig, seine Existenz glanzvoll zu verbrämen, doch stehen seine Ambitionen in einem absurden Widerspruch zu seinen Fähigkeiten. (Wie Emma, liest Frédéric Walter Scott, aber anders als sie versetzt er sich in seiner Fantasie in Scotts Rolle, nicht in die seiner abenteuerlustigen Figuren.) Doch legt er eine Eingebildetheit an den Tag, die ephemere Zweifel oder anhaltende Ressentiments dauerhaft ausschließt.
Dank Frédérics leicht zu durchschauender, selbstzufriedener Mittelmäßigkeit stellt Flaubert sich unverkennbar über seinen Protagonisten; er erreicht dies mit seinen Stilmitteln. Während Emmas und seine eigenen Ressentiments sich in unausgesprochener Wechselseitigkeit begegnen, was auf der Stilebene durch die Vermeidung expliziter Kommentare unterstützt wird, ist Frédérics Überschwänglichkeit in einem Ausmaß lächerlich, dass sie vom Betrachter gefahrlos aufs Korn genommen werden kann. Die Passage, in der das Mysterium der seelischen Vorgänge bei Emma beschrieben wird, bleibt von Adverbien verschont. Doch die Verwendung der Worte »ganz ernsthaft« [» sérieusement «] bei der Beschreibung von Frédérics Bestrebungen erstickt im Keim die Gefahr, dass der Leser sie mit den persönlichen Motiven des Autors verwechseln könnte. Frédérics absurder, doppelter Ehrgeiz kann daher vom auf dem Olymp thronenden Autor ganz leicht verspottet werden, der ja mit seinem neuen Helden nicht im Wettbewerb steht. Auch die objektivierende Wendung »in denen man sich […] entrückt fühlt« hat die Funktion, Frédérics Seelenschauder jeden Anschein von Glaubwürdigkeit zu nehmen. Diese Art von direkter Kommunikation mit dem Leser verbietet sich Flaubert standhaft während seiner ihm so teuren Assoziationen mit seinen Frauengestalten.
Emmas Seele wird wie die Salammbôs oder der Heroinen der frühen Erzählungen in der innerlich logischen Einzigartigkeit und Vollendung ihrer Darstellung gezeigt. Frédérics Gedanken dagegen werden ob ihrer Banalität dank des von Flaubert verwendeten Stils sofort lächerlich gemacht. Emma ist noch in ihren verbittertsten Augenblicken gegen eine, und sei sie noch so sanfte, Ironie des Autors gefeit; ihre Beweggründe entspringen derselben ungestümen Negativität, die Flaubert beim Schreiben auf sie zu übertragen suchte. Frédéric wiederum wird von keinem bestimmten Ideal oder Gefühl inspiriert, sondern nur von den vorübergehenden, externen Reizen des Augenblicks. Zum Beispiel ist seine Entscheidung, nicht Dichter, sondern Maler zu werden, eine von einer flüchtigen Begegnung mit Madame Arnoux ausgelöste Laune; sobald sie vorüber ist, wird sie nie wieder erwähnt.
Emmas Fantasie, wie in dieser Passage angedeutet, geht von der Ambition zur Aktion über, vom Fehlschlag zur Gehässigkeit und wieder zurück zur Ambition. Die Verben sind
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