Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Freiheits- und Gerechtigkeitstheorien scheitern. Nicht viel später als ein halbes Jahrhundert nach Dostojewskis Aussage sollte die Beteiligung aller christlichen Institutionen an unvorstellbarem Unrecht gegenüber unschuldigen Opfern, einer Beteiligung, die zunehmend von mutigen christlichen Theologen [4] eingeräumt wird, die prophetische Brillanz des Autors bestätigen.
Obwohl Aljoscha seinen Glauben an Mitjas Unschuld beteuert, wird dieser, kraft seines nicht formelhaften Umgangs mit der Wirklichkeit ein Außenseiter, wegen des Verbrechens verurteilt, das sein Halbbruder Smerdjakow begangen und sein Bruder Iwan erdacht hat. Das strukturierte Wort überwindet die Repräsentation des Lebens selbst sowohl im doppelbödigen Szenario der Voruntersuchung als auch im Mittelsmann zwischen beiden Ebenen, Iwan, dem Intellektuellen. Denn wenn gezeigt wird, dass unausgesprochene Liebe ohne fremde Hilfe hienieden scheitern muss, gilt dies auch für die »narrative Tendenz« beim Juristen, beim Intellektuellen und beim Schriftsteller. Eine gerechte Weltsicht setzt eine kraftvolle Ethik moralischer Autonomie und Verantwortung für die Gemeinschaft voraus. Liebe, die nur in Individuen, aber nie in Gemeinschaften entsteht, gedeiht am besten, wenn sie nicht in Frage gestellt wird. Sobald sie ihre im Wesentlichen nicht narrative Qualität verliert und zur Grundlage eines Gesellschaftssystems gemacht wird, produziert sie nur ihr Gegenteil, Hass.
Teil 3 – Das Scheitern der heroischen Sicht im Roman: Die französische Literatur im Belagerungszustand
Wir haben uns für die Rettung des Friedens entschieden. Aber […] wir haben Freunde versehrt. Und zweifellos waren viele von uns bereit, für Freundespflichten ihr Leben zu riskieren. Diese Menschen schämen sich jetzt. Aber hätten sie den Frieden geopfert, hätten sie sich ebenso geschämt. Denn dann hätten sie die Menschheit geopfert; sie hätten die endgültige Zerstörung von Europas Bibliotheken, Kathedralen und Forschungsstätten akzeptieren müssen. […] Daher schwankten wir von einer Auffassung zur anderen. Als der Frieden bedroht war, entdeckten wir die Schande des Kriegs. Als Krieg keine Drohung mehr war, fühlten wir die Schande des Friedens.
Antoine de Saint-Exupéry am Tag, als die Nazis die Tschechoslowakei besetzten, zitiert nach Herbert R. Lottman, The Left Bank , S. 122 f.
Salammbô und Schahabarim
In Salammbô setzt sich Spendius gegen Mâtho durch, Hanno gegen Gisko und der Wille der legalistischen Räte gegen den Hamilkars. Doch selbst diese wichtigen Gegensatzpaare sind in erster Linie nur der Reflex der zentralen Dualität zwischen Heroine und Priester. Die zwischen Schahabarim und Salammbô sich entwickelnde Spannung legt die Implikationen künstlerischen Ressentimentsspeziell für Flaubert und allgemein für die romanhafte Behandlung von Heldentum vollkommen offen.
Schon bald stellt Flaubert im Roman die Verbindung zwischen den Priestern Tanits und den Gefilden künstlerischen Ausdrucks her. Alle Priester spielen Musikinstrumente; alle religiösen Rituale der Sekte werden von Musik mit kunstvollen Rhythmen und Melodien begleitet. Schahabarim verkörpert als hoher Priester nicht nur die musikalischen Aspekte der Kunst, sondern hat mit Spendius auch die verbalen Fähigkeiten und eine sorgfältige Erziehung gemeinsam und wird so mit der Literatur in Verbindung gebracht. »Niemand in Karthago war so gelehrt wie er« (S. 210), und daher übernimmt Schahabarim ganz natürlich die Rolle als Salammbôs Begleiter und Privatlehrer. Das zentrale Interesse des Priesters in seinen späteren Jahren waren die Fürsorge für die Prinzessin und ihre Erziehung. Er hat sie nach seinen Vorstellungen unterrichtet und war allein für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und ihrer Meinungen verantwortlich. Das aristokratische Mädchen wächst in der von Schahabarims Worten geschaffenen blumigen Atmosphäre zur reifen Frau heran:
In der Dürre seines Lebens war Salammbô wie eine Blume in der Spalte eines Grabsteins. Doch war er streng gegen sie und ersparte ihr weder Bußübungen noch bittere Worte. Sein Zustand schuf zwischen ihnen eine Art Geschlechtergleichheit, und er verargte es dem jungen Mädchen weniger, daß er sie nicht besitzen konnte, als daß er sie so schön und vor allem so rein fand. […]
Manchmal entschlüpften ihm seltsame Worte, die vor Salammbô aufzuckten wie große Blitze, die dunkle Abgründe erhellen. (S. 212)
Auch wenn die Prinzessin Schahabarim
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