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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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sich sein Stolz. Er schwor sich, auch nicht einmal einen Wunsch mehr nach ihr zu haben, und wie vom Sturm weggetragene Blätter verwehte seine Liebe. Er empfand eine Erleicherung darüber [ il en ressentit un soulagement ], eine stoische Freude. Nun hatte er das Bedürfnis, etwas Gewaltsames zu tun. Und er ging aufs Geratewohl durch die Straßen. (S. 382 f.)
    Für Madame Dambreuse empfindet Frédéric »eine unerklärliche Feindseligkeit« (S. 326), und die anschmiegsame Rosanette belohnt er, indem er sie direkt nach der Geburt ihres Kindes betrügt und nach dessen Tod verlässt.
    So wie Flauberts Neid auf die Frauen durch einen Protagonisten objektiviert, aber nicht aufgelöst wird, der diesen Neid teilt statt ihn in Frage zu stellen, so gibt der Autor auch seine anhaltende Faszination mit dem Heroismus und dessen Vermeidung an Frédéric weiter, der durch seine jämmerliche Eingebungslosigkeit bar jeder Kapazität für heroische und romantische Erfüllung ist. Frédéric findet sich immer wieder inmitten der Unruhen, die Paris zu dieser Zeit erschüttern. Umgeben von den revolutionärenMassen während des Aufstands am Panthéon, gibt er Klischees von sich; er findet »das Volk erhaben« (S. 394), nur um genau dann zu Madame Arnoux zu fliehen, als Handeln geboten ist. Er lässt Dussardier, eine Nebenfigur, für die gute Sache kämpfen und Blut vergießen. Dieses Muster wiederholt sich, als er vor der Revolution flieht, um darüber »in einem ganz lyrischen Stil« (S. 396) einen Artikel zu schreiben. Die mangelnde Bereitschaft Frédérics, in historischen Krisenmomenten zu handeln, spiegelt Flauberts lebenslanges Zögern, an den politischen Bewegungen seiner Zeit teilzunehmen, selbst wenn er nie aufhörte, die Gesellschaft in seinen Texten zu kritisieren. In einem wichtigen Brief von 1870 gab Flaubert, der so oft über Heldentaten und sogar barbarische Brutalität fantasierte, seinem Wunsch Ausdruck, den echten Konfrontationen im Paris der Revolution zu entkommen. Er beklagt sich bei George Sand:
    Oh! wenn ich in ein Land fliehen könnte, wo man keine Uniformen mehr sieht, wo man keine Trommel hört! wo man nicht von Massakern spricht, wo man nicht gezwungen ist, Staatsbürger zu sein! Aber die Erde ist für die armen Mandarine nicht mehr bewohnbar! [6]
    In L’éducation sentimentale merkt er süffisant an, dass man sich »keinen ergötzlicheren Anblick denken [konnte] als den von Paris in diesen ersten Tagen« (S. 398) der Revolution. Dass Frédérics wankelmütige Stellung gegenüber politischen Strömungen das permanente Schwanken der bürgerlichen Loyalität zwischen Louis Philippe, Napoleon und den Republikanern von oben herab karikieren soll, macht die zugrunde liegende Malaise des Autors nicht vergessen.
    Auch wenn Flaubert in L’éducation sentimentale einen nachdenklichen Standpunkt einzunehmen scheint, der vorher unmöglich gewesen wäre, ist die Struktur des Textes nicht mehr der reinen Zeithaftigkeit verbunden oder weniger auf subjektive Elemente gegründet als die früheren Werke. Eine genaue Charakteranalyse widersteht auch hier wieder der Versuchung, eine künstlerische Auflösung zu finden, wo es keine gibt. Der Schluss, dass hier keine Auflösung stattfand, wird nicht nur durch Flauberts fortgesetzte Bitterkeit in auf L’éducation sentimentale folgenden Werken nahegelegt, sondern auch durch den Beruf, den Frédéric und sein engster Vertrauter und Rivale Charles Deslauriers wählen.

Vom Helden zum Juristen: Der Prototyp
    Lukács ist der Auffassung, dass die Zeit mangels Spannung zwischen internalisiertem Helden und externalisierter Kultur zum einzig wahren Gegenstand von L’éducation sentimentale wird. »Was […] ich machen möchte, ist ein Buch über nichts« [7] war immerhin Flauberts Bauplan für seine reifen Romane, und die politischen Ereignisse in Paris zwischen 1840 und 1851 scheinen in diesem Text jedem gründlichen Versuch einer charakterlichen oder psychologischen Ausarbeitung entgegenzustehen. Frédéric interessiert uns nicht als Person, sondern als Vehikel, das den Verlauf der historischen Zeiten sichtbar macht. Daraus entsteht eine kuriose Wirkung, weil Flaubert in Frédérics recht einfachen Kopf Gedanken einpflanzt, die eines goetheschen Werthers oder eines chateaubriandschen Renés würdig wären. Er ist nicht unempfänglich für die Eindrücke von Liebe (Madame Arnoux) oder natürlicher Schönheit (Spaziergänge mit Rosanette in der Nähe von Versailles), doch wissen wir,

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