Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
das Dekor für den oft vergessenen letzten Aufzug. Hier setzt Shakespeare Porzia weiter als seine Stimme ein; doch schafft er es mit dieser Stimme, den im vierten Aufzug hart erkämpften komödiantischen Sieg rückgängig zu machen, und er verwendet dafür wiederum juristische Bilder. Dies mag der Grunddafür sein, dass nur wenige nachdenkliche Zuschauer jemals das Theater verlassen haben, ohne zumindest ein bisschen aufgewühlt von der gerade gesehenen Komödie zu sein. [13]
Der fünfte Aufzug, der nur aus einer ganz auf der Insel Belmont spielenden Szene besteht, beginnt mit Jessica und Lorenzo. Sie spielen miteinander und führen eine streitlustige Stimmung ein, die von da an die gesamte Handlung ergreift. Sie vergleichen sich mit klassischen Paaren (die alle kein Glück in der Liebe hatten). Ein Bote tritt auf – und unterbricht damit erneut eine direkte Transaktion – und überbringt die Nachricht, dass Porzia in Bälde wieder auf der Insel sein wird. Porzia und Nerissa rücken in den Mittelpunkt und erhalten den von Jessica und Lorenzo angeschlagenen leichten Missklang aufrecht. Jessica hatte gesagt, »Nie macht die liebliche Musik mich lustig«, und Porzia fügt jetzt hinzu, »Die Krähe singt so lieblich wie die Lerche,/Wenn man auf keine lauschet«. An Disharmonien fehlt es nicht, und auch nicht an einem Sinn für ironischen Perspektivismus. Porzia nennt die Nacht »krankes Tageslicht«. Alles, was wir vom Ende einer Komödie erwarten – Liebe, Musik, Mondlicht –, wird untergraben. Aber dies ist noch nicht ironisch, denn wir dürfen nicht vergessen, dass permanenter Wandel im vierten Aufzug geduldet wurde. Beständige Treue auch zu den Werten der Komödie erlitt mit dem geschlagenen Shylock eine eigene Niederlage.
Wir könnten das Theater noch immer in bester Stimmung verlassen, wenn das Stück mit diesen Missklängen endete. Aber an Porzias sensibles Ohr dringt ein echter Streit, diesmal zwischen Nerissa und Graziano. Letzterer verübelt Nerissa ihren Ärger darüber, dass er seinen Ehering weggeben hat. Graziano, die lockerste Figur im Kreis der Venezianer, fragt sich, warum sie sich über »einen Goldreif, einen dürftgen Ring« (V-1, 146) so aufregt. Beispielhaft für die Verwechslung von Schein und Sein, charakteristisch für sein Verhalten während des ganzen Stücks, bemerkt Graziano, dass er den Ring einem verdienstreichen Knirps gegeben hat, dem Schreiber des Richters, also niemand anderem als der verkleideten Nerissa. Aber Nerissa, die die Wahrheit kennt (denn hier beginnt subtil der Sieg von absoluten Werten über Vermittlung), bedient sich der Sprache Shylocks, als sie erklärt: »Des Richters Schreiber!–o ich weiß, der Schreiber/Der ihn bekam, trägt niemals Haar am Kinn« (V-1, 157-158).
Porzia ergreift die Gelegenheit, um Graziano eine Lektion zu erteilen (die letzte hintergründige Vermittlung des Stücks), und verwendet dazu Worte, die ausschließlich Bassanio gelten. Ihre Sprache ist ein weiterer Hinweis auf den starken Atmosphärenwechsel, der durch Nerissas Worte in dieser Szene herbeigeführt wurde:
Ihr wart zu tadeln, offen sag ich’s Euch,
Euch von der ersten Gabe Eurer Frau
So unbedacht zu trennen; einer Sache,
Mit Eiden angesteckt an Euren Finger
Und so mit Treu an Euren Leib geschmiedet. (V-1, 167-171)
Dies veranlasst den niemals sehr diskreten Graziano zu der Enthüllung, dass auch Bassanio seinen Ring verschenkt hat. Daraus entspinnt sich der herrliche Dialog zwischen Bassanio und Porzia, die beide mit dem Ausdruck »der Ring« spielen.
Schwüre und ihre Verkörperung, Ringe, rücken in der Endphase des Stücks in den Mittelpunkt. Auch wenn Shylock verschwunden ist, klingt doch seine Haltung der unvermittelten Pflichterfüllung nach. Natürlich werden Porzia und Nerissa ihren Ehemännern verzeihen, auch wenn wir einen Eindruck davon bekommen, dass sie ihr Thema ernst nehmen. Porzia verlangt von ihrem eidbrüchigen Mann einen »Eid,/Der Glauben einflößt«. In ihrer Forderung lebt die Komödie; doch die Komödie stirbt mit dem sich an dieser Stelle aufdrängenden Antonio:
Ich lieh einst meinen Leib hin für sein Gut;
Ohn ihn, der Eures Gatten Ring bekam,
War er dahin; ich darf mich noch verpflichten
Zum Pfande meine Seele – Eur Gemahl
Wird nie mit Vorsatz mehr die Treue brechen. (V-1, 249-252)
Hier sollte stets eine mindestens fünfzehn Sekunden lange komplette, unkomödiantische Stille herrschen, während Porzia Antonio mit Erstaunen von oben bis unten
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