Reckless - Lebendige Schatten
ihrer Schulter niederließ, war wie ein Fetzen Nacht auf ihrer weißen Haut. Aber selbst die Nacht gehörte nun der anderen. Kami’en schlief immer öfter bei seiner puppengesichtigen Prinzessin.
Was wollte ihre Schwester mit all der Angst und all dem Schmerz? Die Liebe brachten sie nicht zurück.
8
CHANUTE
A n der Straße, die nach Schwanstein hineinführte, drängten sich schon die Arbeiter vor den Toren der Weberei. Ihre Sirenen riefen zur Frühschicht, und Jacob konnte das alte Pferd, das Alma ihm geliehen hatte, kaum beruhigen, als das Heulen sich mit den Kirchenglocken um den frühen Morgen stritt. Die Stute spitzte so besorgt die Ohren, als wären die Drachen zurück, aber sie hörte nur die neue Zeit. Das Heulen der Sirenen. Das Ticken der Uhren. Die Maschinen wollten laufen und sie liefen schnell.
Viele der Männer, die frierend vor den Toren warteten, blickten Jacob nach, als er vorbeiritt. Der Schatzjäger, der immer Gold in der Tasche hatte, der kam und ging, wie es ihm gefiel und weder die Mühsal noch die Eintönigkeit kannte, die ihnen das Leben vergällten. An jedem anderen Tag hätte er den Neid auf den müden Gesichtern verstanden, doch an diesem Morgen hätte Jacob mit jedem von ihnen getauscht, auch wenn das vierzehn Stunden Arbeit für einen Stundenlohn von zwei Kupfermünzen bedeutete. Jedes Leben war besser als der Tod, oder?
Es war ein lächerlich schöner Morgen. Die austreibenden Bäume, das frische Grün … selbst das Fell des alten Pferdes schien nach Frühling zu riechen. Zu dumm. Vielleicht fiel es weniger schwer, im Winter zu sterben, aber Jacob bezweifelte, dass ihm noch so viel Zeit blieb.
Am Straßenrand schlief ein Junge, das schmutzige Bündel an die Brust gedrückt, damit die Däumlinge ihm nicht das wenige stahlen, was er besaß. Jacob war nicht älter gewesen, als er zum ersten Mal nach Schwanstein gekommen war – nur etwas besser genährt dank Alma.
Die spitzen Giebel hatten ausgesehen wie eines der Bilder aus den vergilbten Märchenbüchern seiner Großeltern und der Kohleruß in der Luft hatte so viel abenteuerlicher gerochen als die Abgase der anderen Welt. Alles hatte nach Abenteuer gerochen: das Ledergeschirr der Kutschen, selbst die Pferdeäpfel auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster und die Schlachtabfälle, in denen ein paar hungrige Heinzel herumgestochert hatten. Ein paar Monate später hatte er Albert Chanute getroffen und sein Herz endgültig an die Welt hinter dem Spiegel verloren.
Die Fensterläden des »Menschenfressers« waren noch geschlossen, als Jacob Almas Pferd vor der Wirtshaustür anband. Nur die seiner Kammer standen offen, so wie er sie hinterlassen hatte. Wenn er fort war, übernachtete Fuchs manchmal dort. Den ganzen Weg über hatte er sich die Worte zurechtgelegt, die er ihr sagen wollte. Aber es gab keine Version, die gut klang.
In der Wirtsstube spülte Chanutes neuer Koch die schmutzigen Gläser der letzten Nacht. Chanute hatte den ehemaligen Soldaten angeheuert, nachdem sich allzu viele Gäste über das Essen beschwert hatten, das er selbst zusammenkochte. Tobias Wenzel hatte sein linkes Bein in einer der Schlachten gegen die Goyl verloren und trank zu viel, aber er war ein sehr guter Koch.
»Er ist oben«, sagte er, als Jacob zu ihm an den Tresen trat, »aber Vorsicht: Er hat Zahnschmerzen und die Goyl haben die Steuern erhöht.«
Die Goyl regierten nun schon seit mehr als einem halben Jahr in Austrien, aber niemand in Schwanstein ahnte, dass die Brüder Reckless daran nicht ganz unschuldig waren. Wahrscheinlich hätte es ohnehin kaum jemanden interessiert. Die Männer waren aus dem Krieg zurück (falls sie ihn überlebt hatten), die Goyl bauten neue Fabriken und Straßen, was gut für den Handel war, und selbst der Bürgermeister war noch derselbe. In der Hauptstadt gab es Bombenanschläge und organisierten Widerstand, aber der Großteil des Landes hatte sich mit den neuen Herren arrangiert, und auf dem Thron der Kaiserin saß ihre Tochter und war schwanger von ihrem steinernen Ehemann.
Chanute bellte nur ein grantiges »Was?«, als Jacob an seine Tür klopfte. Die Kammer, in der er hauste, war noch vollgestopfter mit Andenken an seine Schatzjägertage als die Wirtsstube des Menschenfressers.
»Sieh an«, brummte er und presste sich die Hand auf die geschwollene Wange. »Dachte, diesmal kämst du tatsächlich nicht zurück.« Zahnschmerzen. Nichts, was man hinter dem Spiegel bekommen wollte. Jacob hatte sich einmal in Vena
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