Red Rabbit: Roman
hinreißen ließe, wenn der Papst frühzeitig das Zeitliche segnete. Der Boss war ein Mann mit Prinzipien, aber auch sehr emotional. Doch man durfte sich bei Staatsgeschäften nicht von Emotionen leiten lassen – das hatte nur noch mehr Emotionen zur Folge und häufig auch Tote. Und die Wunder der modernen Technologie schienen oft nur dazu zu dienen, die Zahl dieser
Todesopfer kontinuierlich steigen zu lassen. Der DCI tadelte sich für diesen Gedanken. Der neue Präsident war ein besonnener Mann. Seine Emotionen waren seinem Verstand untergeordnet, und dieser Verstand war wesentlich schärfer, als allgemein angenommen wurde – besonders von den Medien, die nur das Lächeln und das theatralische Auftreten sahen. Judge Moore blickte seine direkten Untergebenen an. »Na schön, aber behalten wir trotzdem im Auge, dass man sich sehr allein fühlen kann, wenn man ihm im Oval Office gegenübersteht und nichts zu bieten hat, worauf er aus ist.«
»Sie haben Recht, man fühlt sich sicher sehr allein, Arthur«, bekundete Ritter ihm sein Mitgefühl.
Er konnte immer noch einen Rückzieher machen, versuchte sich Zaitzew zu beruhigen, als er keinen Schlaf fand. Irina neben ihm schlief tief und fest – den Schlaf der Gerechten, wie es so schön hieß. Ihn dagegen plagte die Schlaflosigkeit des Verräters.
Er brauchte nur damit aufzuhören. Das war alles. Er hatte zwei kleine Schritte gemacht, mehr nicht. Der Amerikaner kannte jetzt vielleicht sein Gesicht, aber das war kein Problem – er brauchte nur eine andere U-Bahn zu nehmen oder in einen anderen Wagen zu steigen. Er würde ihn nie wieder sehen, sein Leben würde wieder seinen gewohnten Gang nehmen, und sein Gewissen…
… würde ihn nie mehr belasten? Er schnaubte. Es war ja gerade sein Gewissen, das ihn in diese Sache reingeritten hatte. Nein, es würde nicht plötzlich Ruhe geben.
Aber die Kehrseite der Medaille waren endloses Grübeln und Schlaflosigkeit – und Angst. Dabei hatte er die Angst noch nicht wirklich geschmeckt. Aber das würde noch kommen, da war er sicher. Für Hochverrat gab es nur eine Strafe: Tod für den Verräter, gefolgt vom Ruin seiner Angehörigen. Sie würden nach Sibirien geschickt werden – zum Bäumezählen, wie es euphemistisch hieß. Es war die sowjetische Hölle, ein Ort ewiger Verdammnis, von dem der Tod den einzigen Ausweg bot.
Doch genau dahin würde ihn auch sein Gewissen treiben, wenn er dem einmal eingeschlagenen Weg nicht weiter folgte, stellte Zaitzew fest, kurz bevor er den Kampf endlich verlor und einschlief.
Eine Sekunde später, so erschien es ihm zumindest, ertönte der Wecker. Wenigstens war er nicht von Träumen geplagt worden. Das war das einzig Positive an diesem Morgen. Sein Schädel brummte so gewaltig, dass die Augäpfel aus ihren Höhlen zu springen drohten. Er torkelte ins Bad, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte und drei Aspirin nahm, die, so hoffte er verzweifelt, seinen Kater etwas lindern würden.
Schon der bloße Gedanke an Würste zum Frühstück war zu viel für seinen gereizten Magen, deshalb entschied er sich für Haferflocken mit Milch und dazu ein Butterbrot. Statt des üblichen Kaffees goss er sich ein Glas Milch ein.
»Du hast gestern Abend zu viel getrunken«, sagte Irina.
»Ja, Liebling, das habe ich gerade gemerkt«, brachte er, nicht unfreundlich, hervor. Sie war nicht schuld an seinem Zustand, und sie war ihm eine gute Frau und Swetlana, seinem kleinen zaichik , seinem Häschen, eine gute Mutter. Zaitzew wusste, dass er diesen Tag überleben würde. Nur besonders angenehm wurde er bestimmt nicht. Und was das Schlimmste war: Er musste früh los. Er rasierte sich schlecht, machte dann aber mit einem sauberen Hemd und einer Krawatte doch einen ganz passablen Eindruck. Bevor er die Wohnung verließ, steckte er vier weitere Aspirin ein und ging dann die Treppe hinunter, statt den Aufzug zu nehmen. In der Morgenluft hing ein Anflug von Frische, die auf dem Weg zur Metro eine gewisse Erleichterung war. Er kaufte eine Ausgabe der Iswestija und rauchte eine Trud, und auch das half ihm etwas.
Und wenn ihn jemand erkannte? Nun, damit war kaum zu rechnen. Er befand sich nicht im üblichen Wagen und auch nicht in der üblichen Bahn. Sonst fuhr er immer fünfzehn Minuten später zum Dienst. Er war nur ein anonymes Gesicht unter vielen in einem U-Bahnwagen voller anonymer Menschen.
Und deshalb würde niemand merken, dass er an der falschen Haltestelle ausstieg.
Die amerikanische Botschaft
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