Red Rabbit: Roman
genommen, ohne zu wissen, wer er war? Nicht einmal der KGB hatte das nötige Personal, um kurzfristig eine solche Mission durchzuführen und jeden Botschaftsangehörigen abzuklopfen. Das wäre nicht nur zu plump, sondern würde das ganze Botschaftspersonal auch darauf aufmerksam machen, dass irgendetwas höchst Ungewöhnliches im Gange war.
Nein, dafür war der KGB zu professionell.
Folglich konnte Oleg Iwan’tsch kein Lockvogel sein. Punkt.
Folglich war er das, was er zu sein vorgab.
Bei aller Intelligenz und Erfahrung gelang es Foley nicht, eine Erklärung zu finden, die Rabbit zu etwas anderem machte als dem, was er zu sein schien. Alles andere ergab keinen Sinn.
Aber was ergab bei der Spionage schon Sinn?
Das einzig Sinnvolle war, diesen Kerl aus Russland rauszuschaffen. Sie hatten ein Rabbit, und das musste dem Bären entkommen.
»Du darfst wirklich nicht sagen, was dich beschäftigt?«, fragte Cathy.
»Nein.«
»Aber es ist wichtig?«
»Ja.« Jack nickte. »Ja, das ist es auf jeden Fall. Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wie ernst die Sache tatsächlich ist.«
»Muss ich mir deswegen Sorgen machen?«
»Nein, nein. Es wird nicht gleich der dritte Weltkrieg ausbrechen oder sonst etwas in der Art. Aber ich darf leider nicht darüber sprechen.«
»Warum?«
»Das weißt du ganz genau – weil es der Geheimhaltung unterliegt. Du erzählst mir doch auch nichts über deine Patienten. So wie du an die ärztliche Schweigepflicht gebunden bist, habe auch ich mich an bestimmte Regeln zu halten.« So clever Cathy sonst auch war, das hatte sie offenbar immer noch nicht ganz kapiert.
»Kann ich dir denn gar nicht helfen?«
»Cathy, wenn du offiziell Zugang zu diesen Informationen hättest, könntest du vielleicht ein paar Ideen beisteuern. Vielleicht aber auch nicht. Du bist keine Psychiaterin, denn unter dieses medizinische Spezialgebiet fällt die Sache – wie Menschen auf Drohungen reagieren, wodurch sie motiviert werden, wie sie die Wirklichkeit wahrnehmen und wie sich diese Wahrnehmungen auf ihre Handlungen auswirken. Ich versuche schon seit einiger Zeit, mich in Leute, denen ich nie begegnet bin, hineinzuversetzen, um herauszufinden, wie sie in einer bestimmten Situation reagieren werden. Ich befasse mich mit der Frage, was in ihren Köpfen vor sich geht, und das auch schon, bevor ich zur CIA gegangen bin, aber du weißt ja …«
»Ja, es ist schwer, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Und weißt du was?«
»Was denn?«
»Bei den Normalen ist es noch schwerer als bei den Verrückten. Menschen können durchaus rational denken und trotzdem verrückte Dinge tun.«
»Wegen ihrer Wahrnehmungen?«
Cathy nickte. »Zum Teil deshalb, aber zum Teil auch, weil sie beschlossen haben, an völlig falsche Dinge zu glauben – aus völlig rationalen Gründen. Aber die Dinge, an die sie glauben, bleiben trotzdem falsch.«
Ryan fand es der Sache wert, diesem Gedanken weiter nachzugehen. »Meinetwegen. Dann versuch das doch mal auf… Josef Stalin anzuwenden. Er hat eine Menge Menschen getötet. Warum?«
»Teils aus rationalen Erwägungen heraus, teils aus purer Paranoia. Wenn er eine Bedrohung verspürte, reagierte er sehr entschlossen. Aber er neigte dazu, Bedrohungen zu sehen, die keine waren oder zumindest nicht ernst genug, um eine tödliche Gewaltanwendung zu rechtfertigen. Stalin lebte an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn und bewegte sich ständig zwischen diesen Bereichen hin und her, wie jemand auf einer Brücke, der sich nicht entscheiden kann, auf welche Seite er gehört. In außenpolitischen Angelegenheiten soll er sich genauso rational verhalten haben wie alle anderen auch, aber er hatte eine äußerst rücksichtslose Ader und duldete von niemandem Widerspruch. Einer der Ärzte am Hopkins hat ein Buch über ihn geschrieben. Ich habe es während des Studiums gelesen.«
»Welches Fazit zieht er darin?«
Frau Dr. Ryan hob die Schultern. »Ich fand es nicht sehr überzeugend. Die gegenwärtige Lehrmeinung lautet, dass Geisteskrankheiten durch chemische Unausgewogenheiten im Gehirn ausgelöst werden und nicht, weil man von seinem Vater ein paar Ohrfeigen zu viel bekommen oder seine Mutter mit einer Ziege im Bett überrascht hat. Aber leider liegen uns Stalins Blutwerte nicht mehr vor.«
»Wohl kaum. Soviel ich weiß, haben sie ihn eingeäschert und … wo ist eigentlich seine Asche aufbewahrt?« Ryan dachte nach. In der Kremlmauer? Oder hatte man den
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