Red Rabbit: Roman
Nächstes passieren würde. Spontan ging er auf die Herrentoilette, wo es ein Münztelefon gab, und rief von dort in seinem Büro an. Er sprach weniger als dreißig Sekunden. Danach benutzte er die Toilette, denn das Ganze konnte eine Weile dauern, und er war plötzlich ziemlich aufgeregt. Die Zentrale seiner Organisation befand sich nur ein paar Straßen weiter, und wenig später kamen zwei seiner Kollegen in das Cafe, nahmen Platz, bestellten Kaffee und unterhielten sich angeregt. Morrisay war relativ neu in seinem Job – er war erst zwei Jahre dabei – und er hatte noch nie jemanden festgenommen, der etwas Verbotenes getan hatte. Aber heute war sein großer Tag, ahnte er plötzlich. Er hatte einen Spion entdeckt, einen ungarischen Staatsangehörigen, der für ein anderes Land arbeitete. Und selbst wenn er nur dem sowjetischen KGB Informationen zukommen ließe, wäre das eine Straftat, für die er verhaftet werden konnte – obwohl die Angelegenheit
in diesem Fall vermutlich durch den KGB-Verbindungsoffizier rasch geklärt wurde. Nach etwa zehn Minuten stand der Ungar auf und verließ, gefolgt von einem von Morrisays Kollegen, das Lokal.
Danach passierte erst einmal länger als eine Stunde nichts. Morrisay bestellte eine Portion Strudel – keinen Deut weniger schmackhaft als im dreihundert Kilometer entfernten Wien. Die Magyaren legten nämlich großen Wert auf ihr Essen, und Ungarn war trotz der den Bauern im Ostblock aufgezwungenen Planwirtschaft ein landwirtschaftlich produktives Land. Morrisay rauchte eine Zigarette nach der anderen, las Zeitung und wartete ab, was weiter geschehen würde.
Plötzlich nahm ein Mann, der für einen Ungarn eine Spur zu gut gekleidet war, am Tisch neben seinem Platz, steckte sich eine Zigarette an und vertiefte sich in seine Zeitung.
In dieser Situation kam Morrisay seine extreme Kurzsichtigkeit zugute. Seine Brillengläser waren so dick, dass man eine Weile brauchte, um feststellen zu können, worauf er den Blick richtete. Außerdem beherzigte er, was er bei der Ausbildung gelernt hatte, und ließ den Blick nie länger als einige Sekunden auf einer bestimmten Stelle ruhen. Wie eine Reihe anderer Gäste in dem eleganten kleinen Café, das irgendwie den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, schien er vor allem in seine Zeitung vertieft zu sein. In Wirklichkeit beobachtete er jedoch den Amerikaner – Morrisay hatte sich darauf versteift, dass der Mann Amerikaner sein musste –, wie er ab und zu einen Schluck von seinem Kaffee nahm und ebenfalls ununterbrochen Zeitung las. Irgendwann griff der Mann in seine Hosentasche, holte ein Taschentuch heraus, putzte sich damit die Nase und steckte es in die Hosentasche zurück …
Aber zuerst zog er die Tabaksdose unter dem Tisch weg. Dabei ging er so geschickt vor, dass diesen Handgriff nur ein Angehöriger der Spionageabwehr bemerken konnte, der dafür geschult war. Und für den hielt sich Morrisay. Aber dieser kurze Moment der Überheblichkeit war es, der seinen ersten und folgenschwersten Fehler an diesem Tag zur Folge hatte.
Der Amerikaner trank seinen Kaffee zu Ende und verließ, von Morrisay gefolgt, das Lokal. Der Ausländer ging zu der U-Bahnstation eine Straße weiter und hatte es fast geschafft. Aber eben nur
fast. Er drehte sich überrascht um, als er eine Hand auf seinem Oberarm spürte.
»Könnte ich bitte die Tabaksdose sehen, die Sie von dem Tisch mitgenommen haben?«, fragte Morrisay höflich, weil der Mann offiziell wahrscheinlich Diplomat war.
»Wie bitte?«, sagte der Ausländer. Seinem Akzent nach war er tatsächlich entweder Engländer oder Amerikaner.
»Die in Ihrer Hosentasche«, erklärte Morrisay.
»Ich weiß nicht, wovon Sie überhaupt reden. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …« Der Mann wollte weitergehen.
Er kam nicht weit. Morrisay zog seine Pistole. Es war eine tschechische Agrozet Modell 50, und sie setzte einen deutlichen Schlusspunkt hinter das Gespräch. Aber nur beinahe.
»Was soll das? Wer sind Sie?«
»Ihre Papiere.« Morrisay streckte die Hand aus, in der anderen hielt er weiter schussbereit die Pistole. »Ihren Kontaktmann haben wir bereits festgenommen. Sie sind verhaftet«, fügte er hinzu.
Im Kino hätte der Amerikaner nun seinerseits eine Waffe gezogen und versucht zu entkommen. Doch der Amerikaner fürchtete, dass auch der andere zu viele Filme gesehen haben mochte und in seinem Übereifer von dieser dämlichen tschechischen Pistole Gebrauch machte. Deshalb griff er,
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