Red Rabbit: Roman
Fernschreiber im Inneren des Gebäudes hing ein Merkzettel, der daran erinnerte, dass Chief Superintendent Nolan von der Special Branch, der Staatssicherheitspolizei, sofort über jedes tote Brand-oder Unfallopfer informiert werden sollte. Also hob der zuständige Polizist den Telefonhörer ab und wählte die angegebene Nummer.
Mit dieser Nummer erreichte er den diensthabenden Beamten der Special Branch, der ein paar Fragen stellte und dann in York anrief, um weitere Informationen einzuholen. Dann fiel ihm die Aufgabe zu, Tiny Nolan kurz nach vier Uhr morgens aus dem Bett zu klingeln.
»Sehr gut«, sagte der Chief Superintendent, nachdem er den Schlaf abgeschüttelt hatte. »Sagen Sie den Leuten dort, dass sie die Leiche nicht anrühren sollen. Sagen Sie ihnen das klar und deutlich – nicht anrühren.«
»Sehr wohl, Sir«, bestätigte der Sergeant im Büro. »Ich werde das weitergeben.«
Zehn Kilometer entfernt ging Patrick Nolan wieder schlafen, oder versuchte es zumindest, während er sich erneut fragte, wofür der SIS eine verbrannte Leiche brauchte. Es musste etwas Interessantes sein, war allerdings auch ziemlich unappetitlich – so sehr, dass er noch zwanzig Minuten wach blieb, bevor es ihm gelang, wieder einzuschlafen.
Die Nachrichten jagten in dieser Nacht über dem Atlantik und Osteuropa hin und her. Alle wurden von den Fernmeldetechnikern in den verschiedenen Botschaften bearbeitet, jenen unterbezahlten und überarbeiteten Bürokräften, die buchstäblich die Einzigen waren, die diese brisanten Informationen von den Verfassern zu den anvisierten Empfängern übermitteln konnten und somit auch buchstäblich die Einzigen waren, die alles wussten, aber dieses Wissen für sich behielten. Und genau diese waren es auch, die der Feind mit allen Mitteln zu bestechen versuchte und die deshalb besonders argwöhnisch überwacht wurden. Doch trotz aller Sorgen, die man sich ihretwegen machte, kam nur selten jemand auf die Idee, ihre Loyalität auf irgendeine Weise zu belohnen.
Einer der Empfänger der Mitteilungen war Nigel Haydock. Auf seinem Schreibtisch landete die wichtigste Nachricht des Morgens – denn dort, in seinem Büro am Ostufer des Flusses in Moskau, wo er offiziell als Handelattaché für die königliche britische Botschaft fungierte, kannte in diesem Augenblick nur er die wahre Bedeutung von Operation BEATRIX.
Haydock nahm sein Frühstück meist in der Botschaft zu sich. Da seine Frau hochschwanger war, wollte er nicht von ihr verlangen, ihm morgens Frühstück zu machen – und abgesehen davon schlief sie viel, wohl um sich auf die Zeit nach der Geburt vorzubereiten, wenn der kleine Bursche sie nachts wach halten würde. So saß er also hier, an seinem Schreibtisch, trank gerade seinen Tee und aß ein gebuttertes Muffin, als er die Nachricht aus London erhielt.
»Himmel«, entfuhr es ihm. Doch dann lehnte er sich zurück, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Dieser Schachzug der Amerikaner mit seinen Anleihen bei MINCEMEAT war einfach brillant – ekelhaft und grässlich, aber brillant. Und so wie es aussah, würde Sir Basil mitspielen. Der gerissene alte Kerl! Das war genau das, was er liebte. Charleston war ein Anhänger der alten Schule, einer, der so ausgefuchste und fintenreiche Operationen liebte. Vielleicht würde ihn eines Tages eben diese Durchtriebenheit ins Verderben stürzen, dachte Haydock, aber man konnte nicht umhin, seine Dreistigkeit zu bewundern: das Rabbit nach Budapest zu lotsen und von dort aus seine Flucht zu organisieren …
Andy Hudson zog morgens Kaffee vor, dazu Eier mit Speck, gebratene Tomaten und Toast. »Absolut brillant«, dachte er laut. Die Waghalsigkeit dieser Operation kam seiner abenteuerlustigen Natur entgegen. Sie sollten also drei Menschen – einen Mann, eine Frau und ein kleines Mädchen – heimlich aus Ungarn herausbringen. Das dürfte nicht allzu schwierig sein, aber er musste noch einmal sein Informanten-Netz überprüfen, denn diese Operation durfte er nicht vermasseln, wenn er eine künftige Beförderung nicht aufs Spiel setzen wollte. Der Secret Intelligence Service war innerhalb der britischen Regierungsbehörden einzigartig, da er zwar Erfolge verhältnismäßig gut belohnte, sich bei Misserfolgen jedoch auch unversöhnlich zeigte – im Century House gab es keinen Betriebsrat, der die Arbeitsbienen schützte. Aber das hatte er gewusst, als er beim SIS anfing, und seine Pension konnten sie ihm auf keinen Fall
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