Red Rabbit: Roman
inzwischen der untergehenden Sonne entgegen, durch eine Gegend, in der nur Landwirtschaft betrieben wurde. Irina beugte sich über den Tisch, um der Kleinen das Fleisch zu schneiden, und lehnte sich dann zurück, um zu beobachten, wie ihr kleiner Engel gesittet aß und ein Glas kalter Milch trank – wie ein großes Mädchen.
»Nun, freust du dich jetzt auf unseren Urlaub, mein Schatz?«, fragte Oleg seine Frau.
»Ja, vor allem auf das Einkaufen.« Natürlich.
Oleg Iwan’tsch war plötzlich ganz ruhig, so ruhig wie seit Wochen nicht mehr. Die große Reise hatte also tatsächlich begonnen, und gleichzeitig sein Verrat – ein Teil seines Bewusstseins bezeichnete es so. Wie viele seiner Landsleute, ja, wie viele seiner Kollegen in der Zentrale würden eine solche Chance ergreifen, wenn sie ihnen geboten wurde? Das ließ sich schwer abschätzen. Er lebte in einem Land und arbeitete in einem Büro, in dem jeder seine Gedanken für sich behielt. Es sei denn, man war eng befreundet. Aber gerade die Mitarbeiter des KGB waren stets zu einer Gratwanderung zwischen Loyalität und Verrat gezwungen: sich dem Staat und seinen Grundsätzen gegenüber loyal zu verhalten und jene zu verraten, die den Grundsätzen nicht treu waren. Doch da er, Zaitzew, an diese Grundsätze nicht mehr glaubte, hatte er Verrat begangen, um seine Seele zu retten.
Wenn das Zweite Hauptdirektorat von seinen Plänen gewusst hätte, wären sie verrückt gewesen, ihn in diesen Zug steigen zu lassen. Nein, er war in Sicherheit, zumindest solange er in diesem Zug saß. Und deshalb konnte er im Augenblick auch ruhig die nächsten
Tage auf sich zukommen lassen und abwarten, was passierte. Er redete sich immer wieder ein, dass er das Richtige tat, und aus diesem Wissen resultierte das Gefühl von Sicherheit. Wenn es einen Gott gab, dann würde der sicherlich einen Mann beschützen, der vor dem Bösen Reißaus nahm.
Bei den Ryans gab es wieder einmal Spaghetti zum Abendessen. Cathy kannte ein wunderbares Soßenrezept – geerbt von ihrer Mutter, in deren Adern allerdings kein einziger Tropfen italienisches Blut floss –, und ihr Mann liebte diese Soße, vor allem, wenn es dazu richtiges italienisches Brot gab, das Cathy in einer Bäckerei in der Innenstadt von Chatham entdeckt hatte. Am nächsten Tag brauchte sie nicht zu operieren, und so gab es auch Wein zum Essen. Nun war es an der Zeit, ihr Bescheid zu sagen.
»Schatz, jetzt muss ich tatsächlich für ein paar Tage verreisen.«
»Wegen dieser NATO-Sache?«
»Genau. Wahrscheinlich bin ich nur drei, vier Tage weg, vielleicht aber auch ein bisschen länger.«
»Worum geht es? Darfst du mir das sagen?«
»Nein, streng verboten.«
»Geht’s um die bösen Ost-Jungs?«
»Ja.« So viel durfte er ihr verraten.
»Wer sind die bösen Ost-Jungs?«, fragte Sally.
»Die, die dein Daddy bekämpft«, antwortete Cathy ohne nachzudenken.
»Wie die böse Ost-Hexe im Sauberervonboz?«, fragte Sally weiter.
»Was?«, fragte ihr Vater zurück.
»Dorothy tötet doch die böse Ost-Hexe – hast du das vergessen?« , beharrte Sally.
»Oh, du meinst den Zauberer von Oz .« Das war im Moment ihr Lieblingsfilm.
»Das habe ich doch gesagt, Daddy.« Wie konnte ihr Vater nur so dumm sein?
»Nun, also so was tut dein Vater nicht«, sagte Jack zu seiner Tochter.
»Warum hat Mommy es dann gesagt?«, bohrte Sally nach. Sie hat das Zeug zu einer guten FBI-Agentin, dachte Jack.
Nun war Cathy dran, zu antworten. »Sally, Mommy hat nur einen Witz gemacht.«
»Oh.« Sally widmete sich wieder ihrem Essen. Jack warf seiner Frau einen Blick zu. Sie durften vor ihrer Tochter nicht über seine Arbeit sprechen – nie. Kinder konnten Geheimnisse keine fünf Minuten für sich behalten. Jeder in der Grizedale Close glaubte, John Patrick Ryan arbeite in der amerikanischen Botschaft und habe zudem noch das Glück, mit einer Chirurgin verheiratet zu sein. Sie mussten nicht wissen, dass er ein Agent der Central Intelligence Agency war. Zu viel Neugier wäre die Folge. Zu viele Witze.
»Also drei oder vier Tage?«, fragte Cathy noch einmal nach.
»So wurde mir gesagt. Vielleicht auch ein bisschen länger, aber nicht sehr viel, denke ich.«
»Wichtig?« Sally musste ihre inquisitorische Neugier von der Mutter geerbt haben, dachte Jack … na ja, und vielleicht auch ein bisschen von ihm.
»Wichtig genug, dass sie mich in ein Flugzeug verfrachten.« Das funktionierte. Cathy wusste, wie sehr ihr Mann das Fliegen
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