Red Rabbit: Roman
Rom aus dem Verkehr zu ziehen. Bedrohte der denn die rodina ? Wodurch und auf welche Weise? Ihm standen doch gar keine Streitkräfte zu Gebote. Stellte er eine politische Bedrohung dar? Inwiefern? Der Vatikan galt zwar als staatlich souverän, war aber ohne Militär ziemlich wehrlos. Und wenn es keinen Gott gab, war die Macht des Papstes nicht mehr als eine Illusion, in ihrer Substanz so flüchtig wie Zigarettenqualm. Zaitzews Land verfügte dagegen über die größte Streitmacht auf der ganzen Welt, worauf in jeder Folge der populären Fernsehsendung »Wir dienen der Sowjetunion« hingewiesen wurde.
Warum also wollten sie einen Mann umbringen, der überhaupt keine Gefahr darstellte? Konnte er etwa mit seinem Stock die Fluten der Meere teilen oder das Land mit schrecklichen Plagen überziehen? Natürlich nicht.
Einen harmlosen Mann umzubringen war aber nach Zaitzews Dafürhalten ein Verbrechen, und zum ersten Mal seit seiner Anstellung am Lubjanka-Platz Nummer 2 übte er heimlich seinen freien Willen aus. Er hatte eine Frage gestellt und aus eigener Überlegung eine Antwort darauf gefunden.
Es wäre schön gewesen, wenn er mit einem Freund darüber hätte sprechen können, aber das verbot sich von selbst. So hatte Zaitzew keine Möglichkeit, Dampf abzulassen und seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Vorschriften und Sitten seines Landes zwangen ihn, seine Gedanken für sich zu behalten. Deshalb kreisten und kreisten sie im Kopf herum, bis sie schließlich und endlich geradezu zwangsläufig in eine bestimmte Richtung getrieben wurden, eine Richtung, die der Staat nicht billigen konnte, obwohl sie durch sein repressives Wirken von Anfang an vorgezeichnet war.
Als Zaitzew aufgegessen hatte, trank er Tee und rauchte eine Zigarette dazu, doch seine Gedanken wollten sich nicht beruhigen lassen. Unermüdlich rannte der Hamster durch sein Laufrad. Doch das fiel in dem riesigen Speisesaal natürlich niemandem auf. Zaitzew war für alle, die ihn sahen, ein stiller Kollege, der sich satt
gegessen hatte und seine Zigarette genoss. Wie alle Sowjetbürger verstand sich auch Zaitzew darauf, seine Gefühle zu kaschieren. Seiner Miene war nichts anzumerken. Auf Pünktlichkeit bedacht, warf er einen Blick auf die Wanduhr, um rechtzeitig an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.
In den oberen Etagen nahm sich die Sache etwas anders aus. Um den Vorsitzenden nicht beim Mittagessen zu stören, wartete Oberst Roschdestwenski in seinem Büro geduldig ab, schaute immer wieder auf die Uhr und knabberte an seinem Brot. Die Suppe, die ihm dazu gereicht worden war, ließ er achtlos kalt werden. Wie sein Vorsitzender rauchte er amerikanische Zigaretten, Marlboros, denn sie waren milder und schmeckten besser als die aus heimischer Herstellung. Während seiner Auslandseinsätze hatte er sich angewöhnt, diese Marke zu rauchen, und als hochrangiger Offizier des Ersten Hauptdirektorats war es ihm ja ohnehin möglich, in den Spezialgeschäften der Moskauer Innenstadt einzukaufen. Aber selbst für jemanden wie ihn, der seinen Sold in frei konvertierbaren Rubeln ausgezahlt bekam, waren diese Zigaretten sehr teuer. Dafür trank er billigen Wodka, und so glich sich alles wieder aus. Er fragte sich, wie wohl Juri Wladimirowitsch auf Goderenkos Antwort reagieren würde. Ruslan Borissowitsch war als Agent außerordentlich tüchtig, ausgesprochen umsichtig und als altgedienter Offizier durchaus berechtigt, seine Meinung zu sagen. Immerhin war es ja sein Job, die Moskauer Zentrale mit guten Informationen zu versorgen, und wenn er Grund hatte zu der Annahme, dass eine geplante Mission scheitern könnte, war es seine Pflicht, davor zu warnen. Außerdem hatte das an ihn gerichtete Geheimschreiben keinerlei Befehle enthalten, sondern lediglich die Aufforderung, eine fragliche Situation nach bestem Wissen einzuschätzen. Nein, Ruslan Borissowitsch würde wegen seiner Antwort keinen Ärger bekommen. Er selbst hingegen würde allenfalls einen Wutausbruch von Andropow über sich ergehen lassen müssen, und Oberst Roschdestwenski hatte durchaus ein dickes Fell. Seine Position war beneidenswert und abschreckend zugleich, denn einerseits stand er dem Vorsitzenden sehr nahe, was aber andererseits auch bedeutete, dass er schnell dessen Zähne zu spüren bekommen konnte. Die Geschichte des KGB war voll von Beispielen dafür, dass für Fehler nicht diejenigen büßten,
die sie eingebrockt hatten, sondern der nächstbeste Prügelknabe. Aber dazu würde es jetzt
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