- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
erfüllte die Luft wie der unerwartete Duft eines starken Gewürzes.
Claude, Roxannes Bruder, schloss zu ihnen auf, stolpernd, da er versuchte, bei jedem Schritt einen Stein vor sich her zu kicken.
»H-h-hallo.« Claude hatte flinke graue Augen. Er war etwas jünger als die Mädchen und im Dorf ein Außenseiter, da er schon immer ein wenig … anders war. Aus unerfindlichen Gründen trug er nur einen einzelnen Wildlederhandschuh, und er war unablässig damit beschäftigt, ein selbst gemachtes Kartenspiel zu mischen, das er ständig bei sich trug. Die Taschen seiner Flickenhose, die seine Mutter aus Sackleinenresten und Lederflicken zusammengestückelt hatte, waren immer nach außen gestülpt. Er wurde wegen der Hose verspottet, aber das kümmerte ihn nicht. Er war stolz auf das Werk seiner Mutter, die bis spät in die Nacht nähte, obwohl sie in der Schenke schon schwer genug arbeiten musste.
Wie man sich erzählte, war Claude als Säugling auf den Kopf gefallen und deshalb so wunderlich. Valerie hielt das für Unsinn. Er war eine schöne Seele.
Sein Fehler war nur, dass er nicht zu allem gleich seinen Senf dazu gab wie alle anderen, sondern wirklich zuhörte. Deshalb hielten ihn die Leute für begriffsstutzig. Dabei war er einfach nur freundlich und nett und er liebte die Tiere wie die Menschen.
Er wusch nie seine Socken. Und niemand wusch sie für ihn.
Er und Roxanne hatten beide Sommersprossen, aber er hatte mehr, sogar auf den Lippen.
Alle nannten Roxanne und Claude Rotschöpfe, warum, hatte Valerie nie verstanden. Sie vermutete, dass Fantasielosigkeit der Grund war. Sie würde die beiden Sechs-Uhr-Abends-Sonnenuntergang-Schöpfe
nennen. Oder Seegrund-Algenwedel-Schöpfe. Als Kind hatte Valerie sie immer um ihre Haare beneidet, denn in ihren Augen waren sie etwas Besonderes, ein Zeichen Gottes.
Claude und Valerie hörten zu, während die anderen Mädchen über die Jungen aus den Nachbardörfern schwatzten, die bei der Ernte helfen sollten. Claude verlor bald das Interesse und schlappte gemütlich in Richtung Dorfmitte zurück.
Doch irgendwie änderte sich die Stimmung, als sie an der Feldschmiede vorbeikamen, die auf dem Weg zu den Heuwiesen eingerichtet worden war. Eine gewisse Befangenheit wurde spürbar. Die Mädchen wurden fahrig. Ihr Atem ging schneller. Valerie kniff vor Enttäuschung die Augen zusammen. So dumm konnten ihre Freundinnen doch nicht sein. Wegen eines Jungen den Kopf zu verlieren. Henry Lazar.
Er war ein hübscher, schlaksiger Bursche mit kurz geschnittenen Haaren und ungezwungenem Lächeln. Zusammen mit seinem Vater Adrien, der ebenfalls gut aussah, war er gerade damit beschäftigt, Achsen von Erntewagen auszubessern. So wie andere Leute gerne kochten oder im Garten arbeiteten, so hatte Henry seine Freude an den Feinheiten von Schlössern, die er gern selbst konstruierte und herstellte. Einmal hatte er Valerie ein paar gezeigt, die er geschmiedet hatte, viereckige und runde, wobei eines zufällig wie ein Katzenkopf aussah, ein anderes wie ein auf dem Kopf stehendes, von einem Kind gezeichnetes Haus oder ein Familienwappen. Manche waren schwarz, andere golden, wieder andere mit einer dunklen Patina überzogen.
Valerie winkte unbekümmert, während ihre Freundinnen verstummten, schüchtern vor sich hin lächelten und zügig
vorbeischritten. Nur Lucie machte einen höflichen Knicks. Henry schüttelte den Kopf und grinste.
Rose, die sich im letzten Moment zurückfallen ließ, um ganz sicherzugehen, dass sich ihre Blicke begegneten, sah ihm so lange in die Augen, dass es ihm unangenehm wurde.
Davon abgesehen taten die Mädchen so, als machten sie sich überhaupt nichts aus Henry, und nahmen verkrampft ihre Unterhaltung wieder auf. Obwohl sie so eng befreundet waren, glaubten sie dennoch, sich eine Blöße zu geben, wenn sie zugaben, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlten. Außerdem hatte auf diese Weise jede das Gefühl, Henry für sich zu behalten. Valerie wunderte sich darüber, dass sie so anders reagierte als die anderen. Gewiss, Henry sah gut aus, war charmant, groß und nett, aber Herzklopfen und Atemnot bekam sie seinetwegen nicht.
»Ich hoffe, ihr habt nicht vergessen, wer heute sonst noch kommt«, neckte sie die anderen.
»Bei so vielen«, bemerkte Lucie, »müssen einfach ein paar Hübsche darunter sein.«
Die Mädchen sahen einander an, fassten sich bei den Händen und hüpften gemeinsam auf und ab. Heute Nacht würden sie frei sein.
Und den Bewohnern von Daggorhorn
Weitere Kostenlose Bücher