- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
dann immer fordernder und drohten schließlich zu platzen.
Sein Kopf durchbrach die Oberfläche. Er blinzelte sich das Wasser aus den Augen und blickte zum Ufer. Er blinzelte noch einmal, um ganz sicherzugehen.
Die Arbeiter waren fort.
Und Peter mit ihnen.
Die anderen Jungen waren verstummt und blickten nervös zu Henry herüber. Alles war still, nur in den nahen Kiefern flatterte ein Vogel. Henrys Vater Adrien schien besonders besorgt. Er beobachtete seinen Sohn vom Ufer aus, doch Henry wich seinem Blick aus. Stattdessen schwamm er wütend davon, mit kraftvollen Zügen, bis seine Muskeln brannten und er das Gefühl hatte, sie würden gleich zerreißen. Der durch das kalte Wasser verursachte Schock war fast eine Wohltat nach dem Schock, Peter wiederzusehen.
Er schwamm, um die schreckliche Erinnerung an jenen Tag zu verscheuchen, an dem Peter das Dorf verlassen hatte.
Doch selbst wenn er bis ans Ende der Welt schwamm, würde er niemals den Anblick vergessen können, wie sein Vater, ein großer, starker und strenger Mann, sich schluchzend über seine auf der Straße liegende Mutter beugte und Tränen vergoss.
Als Peter sah, wie Henry Lazar ihn entsetzt anstarrte, war ihm übel geworden. Genau wie an jenem Tag vor so vielen Jahren. Er hatte fortmüssen, bevor Henry wieder auftauchte. Er fand eine Ausrede – er sagte zu den Männern, dass sie ihr Lager aufschlagen müssten.
Warum nur war er in das Dorf zurückgekehrt? So viele Jahre hatte er Daggorhorn, den Ort des verhängnisvollen Unglücks, gemieden.
Mit erbarmungslosen Schlägen trieb er einen Pflock in die Erde und versuchte dabei, seine Gedanken zu ordnen. In Daggorhorn, so rief er sich ins Gedächtnis, gab es etwas, was nie aufgehört hat, ihn zu locken. Doch jetzt machte es ihm Angst, hier zu sein. Bei ihr . Er hatte sie zu sehr geliebt. Sie waren nur Kinder gewesen. Besser, er behielt sie so in Erinnerung, wie sie früher war, und verwahrte ihr Bild wie einen Edelstein.
Als er, getrieben von einer unwiderstehlichen Kraft, mit dem Wagen ankam, hatte er sich in dem Dorf, das ihm einst so vertraut gewesen war, wie im Traum zurechtgefunden. Es war sonderbar. Alles, was er sah, jeder Baum, jede Biegung in der Straße erinnerte ihn an dasselbe Mädchen, an das Mädchen mit den großen grünen Augen. Und sie war immer noch hier.
Wunderschön. So überwältigend schön, dass es fast schmerzte.
Doch sie rief Bilder der Vergangenheit in ihm wach, die er zu vergessen versucht hatte.
Das Horn ertönte vom Feld und verkündete das Ende der Mittagspause, das Ende der Erinnerung. Es wurde Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.
Warum bin ich zurückgekommen?
Der erschöpfte Vogt stellte Zweiergruppen zusammen, indem er den Frauen, die das Gras auf den Ladeflächen der Wagen platt trampeln sollten, jeweils einen Mann zuteilte, der es ihnen armweise hinaufreichen sollte. Der dichte Bart des Vogts war in der Hitze drahtig geworden wie Stahlwolle. Valerie starrte auf die Reihe der straffen Haarknoten vor ihr und warf dann einen Blick nach links zur Reihe der Männer und suchte ihn mit den Augen. Etwas lenkte ihren Blick zur Mitte der Reihe. Peters klare Augen waren auf sie gerichtet und die Luft zwischen ihnen schien weiß zu glühen. Ohne lange zu überlegen, scherte sie zur Seite aus, ließ ein paar ungeduldige Frauen an sich vorbei und reihte sich weiter hinten wieder ein. Jetzt würde sie Peter zugeteilt werden.
Der Vogt schritt die Gasse zwischen den Männern und Frauen herunter und ordnete die Partner einander zu, indem er ihnen auf die Schulter tippte. Mit seiner rauen Hand gab er zuerst ihr, dann Peter einen Klaps und brummte mit schroffer Stimme: »Du und du.« Obwohl sie den Vogt bei seinem Gang durch die Gasse immer wieder dieselben Worte leiern hörte, war ihr, als hätten sie, als sie ihr und
Peter galten, einen magischen Klang gehabt, einen Klang, der die Verbindung zwischen ihnen fühlbar machte.
Sie hatte den ganzen Nachmittag Herzklopfen, als sie dicht beieinander arbeiteten. Sie genoss es, die Ballen zu berühren, die er eben noch gehalten hatte.
Und doch sah er sie kein einziges Mal an. Aber dass er sie nicht ansah, besagte mehr, als wenn er es getan hätte. Oder bildete sie sich das nur ein?
Der Vogt lief unablässig zwischen den Reihen hin und her und passte auf, sodass sich nie eine Gelegenheit zum Reden ergab. Den ganzen Nachmittag waren Augen auf sie gerichtet. Anscheinend war sie nicht die Einzige, der dieser Mann aufgefallen war –
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