- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
Stahltrossen. Es waren Vater Solomons Soldaten. Sie hatten einfach hinter den Kulissen gewartet, bis der richtige Tanz begann.
Einer von ihnen, der Hauptmann, bedachte Valerie mit einem abgebrühten Lächeln. »Lauf und versteck dich, Mädchen«, flüsterte er.
Sie betraten die Stätte des Grauens und aus den anderen Ecken des Platzes rückte der Rest von Solomons Männern heran.
Valerie blickte sich suchend nach der Kreatur um.
Der Wolf hatte gerade seine Krallen in den Rücken des Dorffleischers gebohrt, spitzte aber die Ohren, als ein wilder Schlachtruf ertönte, und schaute sich um, einen noch zuckenden Arm in seinem gewaltigen Maul. Es sah zwei
Streitäxte niedersausen, die ein Hüne von einem Wikinger in seinen Händen wirbelte. Der Wolf schien beim Anblick des Eisenhagels in eine Starre zu verfallen, doch als die Äxte sich senkten, um zweifachen Tod zu bringen, ertönte ein Knurren, gefolgt von einer Bewegung, so schnell, dass kein Auge sie zu erfassen vermochte, und der Furcht einflößende Schlachtruf wurde jäh zu einem Schrei des Entsetzens. Die Äxte flogen durch die Luft. Eine bohrte sich in den verschneiten Boden, die andere traf einen bedauernswerten Dorfbewohner auf der Flucht im Gesicht, dass das Blut spritzte.
Mit einem einzigen gewaltigen Satz war der Wolf sieben Meter weiter und jagte, während der Wikinger auf die einarmige Leiche des Fleischers fiel, einem anderen von Solomons Männern nach.
Valerie, die wie durch einen Albtraum irrte, machte eine unfassbare Beobachtung: Der Schreiber stand ganz nahe beim blutigen Geschehen und zeichnete eifrig, was er sah. Seine Hand bewegte sich schnell, seine Augen noch schneller, erfassten die Bestie in Teilen: Flanken, Fell, Zähne, Zunge. Er blickte nicht auf sein Pergament. Er erübrigte eine Sekunde, um Valerie anzusehen, und bedachte sie mit einem traurigen Lächeln, das zu verstehen gab, dass der Künstler über das, was er sah, entsetzt war, dass er aber von irgendeinem abartigen menschlichen Bedürfnis dazu getrieben wurde, es festzuhalten.
Valerie beobachtete, wie er sich näher an den Wolf heranschob, so nahe, dass er das elektrische Flirren seiner Nackenhaare und den aus seiner Schnauze triefenden Geifer sehen konnte. Seine Feder kratzte über die Seite, braune Tinte sprenkelte den Pergamentbogen. Er schüttelte die Feder, als
der Tintenfluss stockte, und diese kleine Bewegung genügte, um den Blick des Wolfs auf ihn zu lenken. Valerie schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als sie sah, wie der Schreiber die Feder in die Höhe hielt – zu seiner Verteidigung? Oder wollte er damit zu verstehen geben: Sieh her, ich bin nur ein Künstler?
Es spielte keine Rolle. Es war die letzte Geste seines Lebens.
Valerie eilte zu seiner Leiche und hob sein letztes Werk vom Boden auf, ehe es von Blut und Schmutz besudelt wurde. Ein mächtiger Hengst preschte an ihr vorbei und wieherte, als ihm der Wind die Mähne in die Augen peitschte. Vater Solomon saß auf seinem Rücken.
»Flieht in die Kirche!«, brüllte er gegen das panische Geschrei an. »Der Wolf kann heiligen Boden nicht betreten!«
Als er sein Schwert zückte und über die Leiche des Vogts hinwegsprengte, spürte Valerie, dass er Genugtuung empfand. Er hatte die Dorfbewohner gewarnt, aber sie hatten nicht hören wollen, und jetzt hatten sie den Preis dafür bezahlt. Er war ein gutes Gefühl, recht zu behalten, das wusste Valerie, selbst dann, wenn man sich lieber geirrt hätte.
»Dein letztes Stündlein hat geschlagen, du Bestie!«
Der silberne Harnisch blitzte im Feuerschein, als der Jäger in den Kampf ritt. Valerie fragte sich, ob Solomons Schwert gegen das verfilzte dichte Fell des Wolfs ankommen würde. Gab es überhaupt eine Waffe, die mächtig genug war, um eine solche Kreatur niederzustrecken?
Die hochaufragende Wolfspuppe hatte sich in einen orangerot lodernden Fleck vor dem Himmel verwandelt.
Solomons Männer näherten sich dem Wolf in geduckter Haltung. Das Gesicht der Bestie ließ weder Angst noch Wut
erkennen. Valerie hatte eher den Eindruck, dass sie leicht verärgert blickte. Fast schon belustigt.
Ein Soldat schwang eine Kette mit einer spitzenbesetzten Metallkugel an jedem Ende. Die Waffe erschien fürchterlich in ihrer Einfachheit. Und mit ebensolcher Einfachheit tötete der Wolf den Soldaten.
Als Nächster stürmte ein dunkelhäutiger Soldat mit einem Krummsäbel vor, streng und schön in seinem Zorn. Er schien verblüfft, als die Klauen des Wolfs ihr Ziel fanden,
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