- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
dieser Tag irgendwann kommen würde. Sie hatte es gewusst, wenn sie ihren alltäglichen Beschäftigungen nachging, doch sie hatte sich nie gestattet, darüber nachzudenken.
Aber sie hatte es immer gewusst.
Und jetzt war er da.
Zuerst kam von dort ein leises Knurren, das im Getöse des Festes unbemerkt blieb. Doch es war wie ein Tropfen Wasser, der eine Flutwelle auslöste.
Mit lautem Gebrüll und einem einzigen weiten Satz war der Wolf an Valerie vorüber und mitten auf dem Dorfplatz.
Der Vogt, der an der Ehrentafel gerade eine Rede schwang, blinzelte, als die gewaltige dunkle Gestalt vor ihm auftauchte, und verzog das Gesicht. Sein vom Alkohol benebelter
Verstand versuchte zu verstehen. Erst gestern hatte er eine solche Gestalt gesehen, oben in der Höhle, aber dies hier konnte kein Wolf sein. Die Bestie, die ihn zum Helden gemacht hatte, war nur ein Schoßhündchen im Vergleich zu diesem … Ding.
Aber diese Augen … diese feurigen gelben Augen … diese riesenhafte schwarze Gestalt … dieses Fell, unter dem die Muskeln spielten …
Grauenhaft.
Der Vogt erhob sich wankend. Seine Hand griff nach dem Messer in seinem Gürtel, denn er wusste alle Augen auf sich gerichtet.
Schnell wie ein Pfeil schoss der große schwarze Schatten auf ihn nieder und im nächsten Augenblick war er schon an ihm vorbei. Doch dieser eine Augenblick hatte genügt. Der Vogt stand reglos da, während eine dunkle Linie an seiner Kehle sich weitete, und dann sank er zu Boden. Eben noch hatte er gegrinst und, seines Ruhmes gewiss, Hof gehalten, und jetzt war er tot.
»Wir werden angegriffen!«, rief jemand geistesgegenwärtig.
Panik schnitt durch das Dorf wie ein Schere durch feine Seide, als der Wolf über den Platz strich. Dorfbewohner stürzten von der Bühne, fielen in den Brunnen. Flaschen wurden umgeworfen, Körbe mit Äpfeln umgestoßen, weggeworfene Musikinstrumente lagen schaukelnd am Boden – ihre Saiten schwangen noch. Männer blieben nicht stehen, um Frauen, die in den Schneematsch gefallen waren, aufzuhelfen. Die Frauen rappelten sich selber wieder auf und schürzten ihre triefenden Röcke mit Händen, die nicht einmal zitterten, so entsetzt waren sie.
Claude hatte abseits gestanden und in der Hoffnung, dass William ihm irgendwann den Hut zurückbringen würde, seine Karten gemischt. Als die Panik losbrach, fuhr er vor Schreck herum, und dabei rutschten ihm die Karten aus den Händen. Sie fielen langsam wie Blütenblätter und landeten sanft im Schmutz. Claude ging auf alle viere und machte sich daran, seinen verstreuten Schatz einzusammeln. Er wusste, dass er eigentlich wieder aufstehen sollte, aber er wusste auch, dass er keine einzige Karte liegen lassen durfte, denn sonst würde sich nichts von all dem Bösen wiedergutmachen lassen und das Böse würde wuchern wie ein Pilz, bis es die ganze Welt verschlang.
Als er unter einen Wagen kroch und die Hand nach der Turmkarte ausstreckte, erstarrte er. Auf der anderen Seite des Wagens rutschte auf dem Rücken ein Mann vorbei, den der Wolf durch den Schnee schleifte, und sein Kopf und seine Gliedmaßen holperten wie ein Sack Äpfel über den Boden. Als sie vorüber waren und Claude nicht mehr die Sicht versperrten, erblickte er die Schneiderin, die zwei Monate zuvor mit ihrer Version des Bildes »Des Geliebten Rückkehr von der Jagd« als Siegerin aus dem Stickwettbewerb des Dorfes hervorgegangen war. Jetzt lag sie zusammengesackt auf der Erde und ein dunkler, warmer Blutschwall schoss aus ihr hervor.
Und während Claude wie ein Hund auf allen vieren dahockte, traf ihn die Erkenntnis, dass er die Flut des Bösen niemals würde eindämmen können. Das Leben war so winzig klein, und ganz gleich, was er tat, das heitere Kartenspiel des Lebens würde immer verstreut werden und in den
Schmutz dieser leidenden Welt fallen. Claude kauerte sich zusammen, und sein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
Valerie stand mitten in dem Wahnsinn, an einem Ort jenseits der Angst.
Warum rennen sie alle? Was hat ihnen das Leben denn jemals gegeben? Sie haben die ganze Zeit dem Wolf gehört. Und jetzt ist er zurückgekommen und holt sich, was immer schon sein war.
Aber dann eilten mit großen Schritten vier Dorfbewohner an ihr vorbei, eingehüllt in ihre Mäntel und seltsam unerschrocken.
Der Grund wurde klar, als sie ihre Verkleidung abwarfen und die Waffen zückten – ein tückisch blitzendes Silberschwert, zwei furchterregende Streitäxte und Peitschen so dick wie
Weitere Kostenlose Bücher