- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
noch seine heiße Haut auf ihrer. Es war überwältigend gewesen und am liebsten hätte sie diesen Augenblick für immer festgehalten.
Wieder fühlte sie sich beobachtet. Unwillkürlich hob sie den Blick. Eine Krähe mit wachen schwarzen Augen hockte oben auf dem Turm. Sie warf einen suchenden Blick herab, breitete die Flügel aus und flog davon.
Hinter einem anderen Pfosten versteckt, sah Henry Lazar, dass Valerie seine Gegenwart spürte und aufschaute. Scham sammelte sich in seinem Inneren wie etwas Nasses. Seine Gefühle waren wie abgeschnitten, wie abgestorben. Eigentlich hatte er umkehren wollen, als er sie und Peter zusammen sah, doch er hatte einfach nicht wegsehen können. Und so stand er jetzt da, starr von Entsetzen und wie gebannt von der Intensität und Schönheit dieses furchtbaren Anblicks.
Er verharrte noch einen Augenblick, dann schob er das Kinn vor und schlich sich davon.
Kapitel 17
V alerie wartete, bis die Stimmen der Männer sich entfernten, immer leiser wurden und schließlich verklangen. Dann erst kam sie hinter dem Pfosten hervor, schlüpfte durch eine Seitentür und kehrte, froh, von dem Ort wegzukommen, zum Fest zurück.
Von Peter war nichts zu sehen. Eine Reihe von Gestalten, deren Rücken von den hohen Flammen beleuchtet wurden, bewegten sich zum Rhythmus der Musik. Wie es schien, hatte niemand ihre Abwesenheit bemerkt. Selbst Roxanne war beschäftigt und sah ehrfürchtig den Feuerläufern zu, die sich im Kreis drehten, Rückwärtssaltos vollführten und auf Händen über die Glut liefen und dabei mit den Beinen strampelten. Auf einmal war alles so schön.
Von einer ungeahnten Wildheit gepackt, wurde Valerie übermütig. Der Schenkenwirt trottete vorbei. Er trug auf dem Kopf ein Ziegengehörn, das unter dem Kinn festgebunden war. Valerie strich sich die Haare aus dem Gesicht und flocht sie mit flinken Händen zu losen Zöpfen. Dann riss sie dem Wirt die Hörner vom Kopf und setzte sie sich selber auf.
Überall auf den Heuballen lagen umgefallene Krüge und Bier sickerte langsam durch die dicht gepackten Bündel
und tropfte auf den Boden. Valerie hörte über sich Gelächter und hob den Kopf. Ein paar Männer saßen auf einem Baum und gossen ihre Getränke zwischen den Ästen hindurch auf die Leute, die unten vorbeigingen. Eines der Opfer überlegte, ob es in Zorn geraten sollte, zog es dann aber vor mitzulachen. Jemand kippte ins Gebüsch und eine tapfere Seele sprang ihm nach. Ein paar Bauern hieben betrunken auf Äste ein und von Zeit zu Zeit krachte ein dicker herunter. Andere hörten es, doch bei dem Lärm machten sie sich nicht einmal die Mühe hinzusehen.
Plötzlich stand die schwelende Glut des Freudenfeuers für alles, was Valerie durchgemacht hatte, für die Verluste, die Misserfolge, den Kummer. Sie huschte an Roxanne vorbei und lief über die rote Glut auf der Erde, tanzte zu der stampfenden Musik über sie hinweg. Sie fühlte sich schwerelos, war nur noch Bewegung. Das Gefühl verflog in dem Moment wieder, als es ihr bewusst wurde, und sie sprang aus der Glut und drehte sich um.
Roxanne, die es ihr nachgetan hatte, kam auf sie zugestürzt, kreischend vor Lachen. Dann lagen sie einander in den Armen, drehten und drehten sich. Valerie konnte nichts mehr erkennen, die Welt verschwamm vor ihren Augen. Was da draußen war, war nicht wirklich. Wirklich war gewesen, Peters Hände zu spüren, das Gewicht seines Körpers, den Hauch seines Atems.
Eine Sache aber war anders … Zwei Mädchen waren ihrem Beispiel gefolgt und liefen über die Glut, und als sie – ihre Körper eine zerfließende bunte Masse – an Valerie vorübertanzten, kam in der Gasse hinter ihnen etwas zum Vorschein, etwas, was aus allem Verschwommenen hervorstach und ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Wo bist du denn gewesen?«, fragte Roxanne, die nichts bemerkte, und rang nach Atem.
Ein Augenpaar.
Valerie blieb plötzlich stehen, sodass Roxanne sie anrempelte.
»Was ist denn mit dir los? Ich habe dich gesucht.«
Sie schwiegen einen Augenblick, bis die Welt aufhörte, sich zu drehen. Roxanne wartete auf eine Antwort. Doch Valerie war in Gedanken woanders, weit weg in der Zeit.
Sie war wieder sieben Jahre alt, ein kleines Mädchen im dunklen Wald, starr vor Entsetzen, wie gebannt von einem Paar wilder Augen.
Die Augen sahen sie an.
Nicht auf gewöhnliche Art, sondern auf eine Weise, wie sie noch niemand angesehen hatte. Die Augen durchbohrten sie, erkannten sie.
Der Wolf .
Sie hatte gewusst, dass
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