Rede, dass ich dich sehe
»zur Zeit kein Vorbild«, hören wir. Er stelle sein persönliches Ehrenwort über die Verfassung – ein vergleichsweise weniger bedenkliches Vergehen, finde ich, gemessen an der Tatsache, daß der damalige Bundeskanzler während seiner Amtszeit sich und seine Partei – auch mit Hilfe illegaler Geldmanipulationen – der demokratischen Kontrolle über die Art und Weise seiner Machtausübung entzog. Wird diese beunruhigende Tatsache vielleicht lieber beschwiegen, weil sonst die Deformation des Parteienstaates auf Kosten der Demokratie öffentlich zur Sprache kommen müßte? Weil sonst, auf diesen Staat bezogen, evident würde, was Helmuth Plessner einst vom Reich Bismarcks sagte: »Es stand für nichts, von dem es überragt wurde.« Dies aber wäre ein Thema für einen anderen Tag.
Eine weitere Rede, die nicht gehalten wird, wäre nach meiner Meinung spätestens fällig gewesen, als die Beweise dafür auf dem Tisch lagen, daß der Kosovo-Krieg, der offiziell nicht einmal »Krieg« heißen sollte, unter falschen Voraussetzungen begonnen worden war. Der deutschen Bevölkerung waren, um sie auf die Teilnahme an diesem ersten Krieg in der deutschen Nachkriegsgeschichte einzustimmen, falsche, zumindest unvollständige Informationen geliefert worden – in Reden, denen also nicht zu trauen war. – Auch ungehaltene Reden können wirken, allerdings in unerwünschter Richtung. Sie lockern die Bindungen innerhalb der Gesellschaft, welche durch geglückte, wahrheitsgemäße Reden gefestigt werden können.
Erinnert sich noch jemand an die Rede von Günter Grass vor wenigen Jahren – wiederum übrigens in der Paulskirche –, in der er vor den Folgen der Einschränkung des Asylrechts in Deutschland warnte? An die Schmähungen, die ihm zuteil wurden? An das jahrelange Zurückweichen vieler Politiker vor ausländerfeindlichen Strömungen in der Bevölkerung um der Wahlergebnisse willen? Die Auseinandersetzung darüber, daß
Deutschland ein Einwanderungsland ist, hätten die Politiker nicht scheuen dürfen, dann könnten sie jetzt glaubwürdiger von dem Mann, der Frau auf der Straße die allerdings sehr nötige Zivilcourage gegen rechte Gewalt einfordern.
Mein Eindruck ist, wir leben in einer Gesellschaft, in der die Bindungen sich lockern, in der die gern beschworene Wertegemeinschaft zu schwinden beginnt. Für jedermann sichtbar bei den Jugendlichen, die, auch für mich erschreckend, dieser Gemeinschaft und ihren Werten offen, brutal und höhnisch den Kampf ansagen. Doch an der sogenannten Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie werden diese Werte genauso zynisch mißachtet – heimlich und ohne offene Kampfansage –, wenn es um rücksichtslose Profitmaximierung geht. Wie aber soll man erziehen, fragte schon Ingeborg Bachmann, »halb auf die wölfische Praxis, und halb auf die Idee der Sittlichkeit hin«.
Ich wünsche mir Redner und Rednerinnen, die den Mut haben, diese Zusammenhänge offenzulegen, und sie nicht in Sonntagsreden verschleiern; Redner, die die strukturelle Gewalt in unserem Gemeinwesen, das auf Stärke, Konkurrenz im Weltmaßstab, auf unbegrenztes Wachstum, auf Leistung und Karriere programmiert ist, in Beziehung setzen zu dem dumpfen Haß jener, denen all dies unerreichbar ist. Und ich stelle mir vor, daß ein Politiker, der als Redner die Wurzeln der schwindenden Integrationskraft unserer Gesellschaft aufdeckte, die ja zugleich die Gründe für die schwindende Bewohnbarkeit unseres Planeten sind – daß ein solcher Politiker seiner Glaubwürdigkeit wegen vielleicht sogar die Chance hätte, gewählt oder wiedergewählt zu werden.
Utopie, wiederum? Wunschdenken? Wünschen ist nicht verboten, hat meine Großmutter immer gesagt. Und im übrigen berufe ich mich auf Hamlet: »Nur reden will ich Dolche, keine brauchen.«
2000
Nachdenken über den blinden Fleck
Über Erinnern möchte ich sprechen – das erste Glied in der Triade jener Begriffe, die den psychoanalytischen Prozeß kennzeichnen und denen Ihr Kongreß gewidmet ist: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Es ist seit langem mein Thema, es hat mich gereizt im Doppelsinn dieses Wortes, es hat mich beschäftigt, herausgefordert, erregt, ist mir – als Vergessen – nahegegangen, hat mich in Konflikte und Krisen gestürzt und mich, manchmal, in Trauer und Selbstzweifel getrieben. Zeitweise, wenn ich das sich häufende Material sichtete, das mir in den Monaten zufiel, seit ich weiß, daß ich heute zu Ihnen sprechen sollte – zeitweise war
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