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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Meinung zu sträuben. Abends dagegen unterliegen sie leichter der beherrschenden Kraft eines stärkeren Wollens.« Als Hitler vorzeitig aus der Festungshaft entlassen wird, ist ihm verboten, öffentlich Reden zu halten.
    Reden ist, nicht so selten, Ver führung. Das deutsche Selbstempfinden unter Hypnose. Da hat der Appell an die Vernunft , den Thomas Mann noch 1930 versucht, keine Chance. »Ist das deutsch?« fragt er sich entgeistert angesichts der »Riesen
welle exzentrischer Barbarei«, der sich die Deutschen unterwerfen, und er beschwört sie, sich selber Mut machend: »Die Würde eines Volkes wie des unsrigen kann nicht die Einfalt, kann nur die Würde des Wissens und des Geistes sein, und die weist den Veitstanz des Fanatismus von sich.« Aber die zivilisatorischen Werte, die Thomas Mann anmahnt, haben ihre Bindekraft bei den Massen verloren. Seine heute berühmte Folge von Reden, Deutsche Hörer! , muß er aus der Emigration in Kalifornien über den Rundfunk nach Deutschland schicken, nur wenige wagten, sie zu hören. Die erste Rede, die der Autor wieder auf deutschem Boden halten kann, ist seine Ansprache im Goethejahr , im Juli 1949 in der Frankfurter Paulskirche, im August im Weimarer Nationaltheater; da ist, als Folge deutscher Geschichte, Deutschland gespalten, und der deutsche Dichter, der es für nötig und möglich hält, nicht nur dem Westen, auch der »Ostzone« sein Bild von Goethe vorzutragen, ist eben deshalb wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. In manchen Dingen ist das deutsche Selbstempfinden, gerade weil es gespalten ist, hoch sensibel.
    Vierzig Jahre lang wird es in zwei unterschiedlichen Ausformungen vorkommen, und es wird in der westlichen Hälfte eher gepflegt, in der östlichen offiziell zunehmend geleugnet werden. »O Deutschland, wie bist du zerrissen / Und nicht mit dir allein!«, heißt es bei Brecht.
    Reden ist auch Kampf um Deutungsherrschaft. Dieser Kampf wurde in den beiden Deutschländern in einer Unzahl von Reden ausgetragen; es könnte erhellend sein, dieses Ringen um Deutungshoheit über die Geschichte durch eine Gegenüberstellung bezeichnender Reden ost- und westdeutscher Politiker zu belegen. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, daß Reden hochgestellter Repräsentanten in der DDR als wichtige Dokumente behandelt wurden, die zu kritisieren ein Sakrileg war, und: Je tiefer die Widersprüche einer Gesellschaft, je weniger die Herrschenden bereit sind, sie wahrzunehmen, sie zu benennen, an ihrer Lösung zu arbeiten, desto nötiger wird eine Le
benslüge gebraucht, sie zu übertünchen, desto hohler, desto pathetischer werden die Reden ihrer Repräsentanten. Und je realitätsgerechter ein Politiker denkt und handelt, desto unprätentiöser kann er sprechen. Im August 1970 sagte Willy Brandt, damals Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, in Moskau bei Abschluß jenes Vertrages, der die Unverletzlichkeit der europäischen, also auch der deutschen Ostgrenzen festlegte: »Dieses Jahrhundert – von Blut und Tränen und harter Arbeit gezeichnet – hat uns Nüchternheit gelehrt.« Und er wendet sich an die zu erwartenden Kritiker im eigenen Land: »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.« Mit diesem schlichten Satz mutet er seinen Deutschen das vielen noch schwer einsehbare Fazit einer geschichtlichen Epoche zu.
    Unter den Reden, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, kann ich bezeichnenderweise nicht nur deutsche Reden nennen, sondern muß die Rede von Nikita Chruschtschow auf dem XX . Parteitag der KPdSU erwähnen mit ihren Enthüllungen über die Verbrechen des Stalinismus, eine Rede, die zwar – dies ist ja das Schicksal vieler Reden und vieler Redner – nicht die notwendigen gesellschaftlichen Konsequenzen zeitigte, aber bei vielen nicht nur in der DDR eine tiefe Erschütterung hervorrief und kritisches Denken provozierte. Als Zeugnisse für die immense Bedeutung von Reden in der Lebenszeit meiner Generation können auch die Reden von Michail Gorbatschow gelten, die an Nüchternheit nichts zu wünschen übrigließen und gerade dadurch Hoffnungen weckten, die ihr Träger allerdings nicht einlösen konnte. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« – dieser ihm zugeschriebene Satz kann auch über seinen eigenen politischen Bemühungen stehen. Er soll ihn Anfang Oktober 1989 in der Nähe des Alexanderplatzes in Berlin gesprochen haben, wo sich schon die Demonstranten rüsteten. Es

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