Rede, dass ich dich sehe
begann eine der seltenen Volkserhebungen in der deutschen Geschichte, die jene, die daran teilnahmen, zu besonnen und reif politisch Handelnden und oft auch zu überzeugenden Red
nern machte. Für kurze, unvergeßliche Wochen fiel das »deutsche Selbstempfinden« – oder sage ich richtiger: das ostdeutsche Selbstempfinden? – mit der Forderung des Tages zusammen. »Wider den Schlaf der Vernunft« hieß eine große Veranstaltung der Berliner Intellektuellen in einer Kirche, ein Redemarathon über viele Stunden. Vernunft waltete bei den Demonstrationen, aber auch Witz, Heiterkeit, Sarkasmus, Humanität und, ja, endlich: jenes Selbstvertrauen, an dem es uns in unserer Geschichte so oft gemangelt hat. Von diesem Selbstvertrauen getragen, artikulierten die Rednerinnen und Redner die Forderungen des Souveräns, des Volkes, und »führten das Land zur Realität zurück«.
Ja: Wenn das Oberste zuunterst, und besonders, wenn das Unterste zuoberst gekehrt wird, dann erheben bisher Schweigende ihre Stimme, dann reden auch Frauen auf Straßen und Plätzen, wo doch bisher bei allen bedeutenden Anlässen am Rednerpult, hinter dem Katheder, auf der Tribüne, am Mikrofon – ein Mann stand. (Übrigens: Gibt es auch Redenschreiber innen – etwa gar für männliche Redner?) – Viele der Rednerinnen und Redner von damals sind inzwischen wieder verstummt, die Aktivisten jener Wochen im Herbst 1989 haben die Deutungshoheit über ihre Geschichte verloren oder abgegeben; dafür Gründe zu suchen ist nicht das Thema dieser Rede. Mein Thema ist die Redenkultur der Deutschen, und die kam nun allerdings im letzten Jahrzehnt zu neuer Blüte. Bände gesammelter Reden, die in Berlin, in Dresden, in Weimar, in Frankfurt am Main – allerdings in geschlossenen Räumen vor einem begrenzten Publikum – von Frauen und Männern aus Ost und West gehalten wurden, stehen in meinen Regalen – Reden übrigens, die meistens nicht »führen« wollen, Reden, in denen die Gesellschaft sich über wichtige Fragen mit sich selbst verständigt; in denen sie versucht, sich in ihrer neuen, nicht nur vergrößerten, sondern qualitativ veränderten Gestalt überhaupt erst kennenzulernen – ein sehr konfliktreicher Prozeß; Reden, die das neue deutsche Selbstempfinden an demokrati
schen Werten prüfen und es – endlich! – einem europäischen, einem Weltempfinden zugesellen.
So wäre alles in Ordnung? Ende der deutschen Misere? Das deutsche Selbstempfinden in einem stabilen, gelassenen, sich selbst wohltätigen und für alle Nachbarn ungefährlichen Nationalgefühl aufgehoben? Keine Rede, keine Reden mehr von wunden Punkten?
Doch wohl nicht. In den letzten Jahren sind es ja gerade Reden gewesen, die, wenn auch ungewollt, an jene wunden Punkte gerührt haben. Erinnern Sie sich an die Aufregung nach der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger im November 1988 zum Gedenken an den 50. Jahrestag der Reichspogromnacht? Daß er zurücktreten mußte, weil er den Zuhörern den Eindruck vermittelte, er wolle sich in die Deutschen der Nazizeit einfühlen und für ihr Handeln und Nichthandeln Verständnis erwecken? Oder denken Sie an die Rede Martin Walsers im Herbst 1998 in der Paulskirche, die eine erbitterte kontroverse, emotional aufgeladene Debatte auslöste, weil ein Teil des Publikums bestimmte Formulierungen Walsers als Plädoyer für einen Schlußstrich unter die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus verstand. Beide Redner hatten neuralgische Punkte im deutschen Selbstverständnis – und nicht nur im deutschen – berührt und haben eine »Normalität« des Verhaltens vorausgesetzt oder eingefordert, die es von Deutschen gegenüber dieser Vergangenheit so einfach nicht geben kann. Das Beispiel einer achtsamen, emotional und intellektuell glaubwürdigen Rede zum Thema der deutschen Vergangenheit gab Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. »Rede, daß ich dich sehe!« hat der Schriftsteller Johannes Bobrowski in seinem Roman Litauische Claviere gefordert. In dieser Rede »sah« man den Redner.
Die wunden Punkte eines Gemeinwesens erkennt man häufig gerade daran, daß über sie öffentlich und intern geschwiegen wird. Helmut Kohl wird also am Tag der deutschen Einheit in Dresden keine Rede halten – dort, wo er vor zehn Jahren
den gutgläubigen Ostdeutschen »blühende Landschaften« versprach, um sie damit nachhaltig zu enttäuschen. Nicht deshalb ist er als Redner nicht eingeladen. Er sei
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