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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Linie männlichen Handelns: die Erzählung von der Heroen Kampf und Sieg oder Untergang. Als Heroine, zum Idol erstarrt, kann die Frau noch in den Mythen überleben. Helena bei Goethe: »Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol.« Das Hinschwinden der Frau in der öffentlichen Wahrnehmung, ihr Unsichtbarmachen ist, so glaube ich, der ursprüngliche und folgenreichste »blinde Fleck« in unserer Kultur, der fortzeugend Böses muß gebären. Als »Seherin« unter Blinden steht die Frau auf verlorenem Posten. Schiller läßt Kassandra klagen:
     
    »Warum warfest du mich hin
    In die Stadt der ewig Blinden
    Mit dem aufgeschloßnen Sinn?
    Warum gabst du mir zu sehen,
    Was ich doch nicht wenden kann?
    Das Verhängte muß geschehen,
    Das Gefürchtete muß nahn.«
     
    Nach der Seherin verstummte, jahrhundertelang, die Dichterin. Männer übernahmen das ehemals weibliche Amt und beklagten, je näher wir der Neuzeit kommen, die zunehmende Kälte der Welt, die ihre Geschlechtsgenossen blindlings herbeiführten. »So sei'n verflucht die Weiber!« tönt Hagen von Tronje im Nibelungenlied, dem germanischen Mythos aus dem Mittelalter, »Weib ist, was falsch und schlecht; / Hie um zwei weiße Leiber, / Verdirbt Burgunds Geschlecht!«
    Aber heute? höre ich Gegenstimmen. So würde doch niemand mehr sprechen. So nicht. »Frauen auf der Überholspur«, lese ich heute, was heißt: Frauen dürfen mit den Männern in Konkurrenz treten, wenn sie die mörderischen Bedingungen annehmen, unter denen dieser Kampf stattfindet. Daß sie, in unseren westlichen Breiten, sich oft entscheiden müssen, »dafür« keine Kinder zu bekommen, führt bisher kaum zum Nachdenken über die tieferen Gründe für diesen Verzicht.
    Ob Goethe im tiefsten Innern fühlte, ahnte, daß eine von Grund auf verkehrte Welt heraufkam? Ob er auch deshalb, vielleicht halb bewußt, sein Manuskript versiegelte, ohne Hoffnung, seine Einsicht, seine Warnung könnte die Nachwelt zu rettender Handlung bewegen?
    Wir sind die Nachwelt. Wir wissen, was kam. Wir leben in einer von Grund auf verkehrten Welt: Hemmungslos, der Gier nach Besitz und Macht verfallen, schaffen wir die Instrumente zu unserer Selbstzerstörung, zwanghaft häufen wir sie um uns auf und verbreiten sie – ich spreche von der abendländischen Zivilisation – über die ganze Welt, zusammen mit der Anprei
sung von Werten, die bei uns selbst unbeachtet, ungültig geworden sind. Der »blinde Fleck« – wozu brauchen wir ihn heute, was verbirgt er vor uns, vor dieser Gesellschaft, im Zeitalter der Globalisierung? Wie könnten wir unbeschwert leben, wie wir es doch meistens tun, wenn wir uns täglich, stündlich unserer Lage bewußt wären: daß wir, das Tempo immer weiter beschleunigend, dem Wahn hingegeben, in der grenzenlosen Ausweitung der Produktion materieller Güter liege unser Glück, auf ein Verhängnis zurasen, das wir uns konkret nicht vorstellen mögen. Es sind ja nicht wenige, und es werden immer mehr, die das sehen und davor warnen – mit Vorschlägen und inständigen Losungen: »Eine andere Welt ist möglich!«, zum Teil aber auch, wie wir es gerade erlebt haben, als unheimliche Kehrseite der Medaille, als Metastasen der Krankheit, die den ganzen Körper befallen hat: als »schwarzer Block« bei Demonstrationen, unkenntlich, gewalttätig, selbst Symptome des bedenklichen Zustands der Gesellschaft, gegen den sie eigentlich vorgehen wollen.
    Ich habe den Verdacht, daß unter, hinter der »normalen« Verdrängung und Verleugnung, für die wir unseren blinden Fleck benutzen und die wir uns, wenn wir uns Mühe geben, bewußt machen können, eine undurchdringliche Dunkelheit liegt, eine Botschaft, gegenüber der wir wirklich mit Blindheit geschlagen sind und die wir durch keine Anstrengung entschlüsseln können. Ich fürchte, die könnte sich uns zu spät offenbaren.
    Unsere blinden Flecke, davon bin ich überzeugt, sind direkt verantwortlich für die wüsten Flecken auf unserem Planeten. Auschwitz. Der Archipel Gulag. Coventry / Dresden. Tschernobyl. Der Mauerstreifen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Die entlaubten Wälder Vietnams. Die zerstörten Türme des World Trade Centers in New York.
    Das wären einige der drastischen Beispiele für eine zerstörerische Wut, mit der die Widersprüche unserer Zeit sich entladen. Noch schneller gewöhnen wir uns an jene »wüsten Flecken«, von denen unsere Wirklichkeit, auf deren Oberfläche
wir leben, durchlöchert ist: die immer absurder

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