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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Vorteil bedacht, aus Krisen, Zusammenbrüchen immer wieder sich erhebend, ein erstaunlich moderner Mensch: »Ich bin nur durch die Welt gerannt; / Ein jed' Gelüst ergriff ich bei den Haaren, / Was nicht genügte, ließ ich fahren, / Was mir entwischte, ließ ich ziehn. / Ich habe nur begehrt und nur vollbracht, / Und abermals gewünscht, und so mit Macht / Mein Leben durchgestürmt;« die inneren Stimmen, die ihn mahnen, will er nicht hören. Die Sorge tritt an ihn heran, er weist sie ab. Da haucht sie ihn an: »Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun, Fauste, werde du's am Ende!«
    Der blinde Faust tritt vor seinen Palast, Mephisto und die drei argen Gesellen haben auf ihre Weise seinen Befehl ausgeführt: Die Hütte ist zerstört, das Kirchlein zunichte gemacht, die beiden Alten wurden umgebracht. (»Man hat Gewalt, so hat man Recht.«) Schwächlich »verdrießt« den Befehlshaber, Faust, »die ungeduld'ge Tat«, doch ihre Folgen will er genießen. Das Geklirr der Spaten, das er hinter sich hört und als Landnahme auf seinem neuen Besitz mißdeutet, »ergetzt« ihn, noch glaubt er, die Arbeiter antreiben zu können. Mit Blindheit geschlagen, unterliegt er einer tragischen Täuschung: Auf Anweisung des Mephisto graben die Lemuren ihm sein Grab.
    Mir kommt es so vor, als könnten erst wir Heutigen die ganze Tiefe dieser Einsicht des alten Goethe sehen, da seitdem Hekatomben von Gräbern unseren Weg, den Weg der sogenannten Geschichte, gezeichnet haben und zeichnen und da immer wieder, und auch heute, in jedem einzelnen Abschnitt dieser neuen Zeit, das Losungswort FORTSCHRITT ausposaunt wird und,
die ihm nachgehen, für die Menschenopfer blind macht, die dieser Fortschritt kostet.
    Goethe jedenfalls hat dieses Werk seinen Zeitgenossen zu seinen Lebzeiten nicht zumuten wollen. Er hat es versiegelt und zurückgelegt und an Zelter, dem er diese »sehr ernsten Scherze« wohl hätte widmen wollen, als Begründung geschrieben: »Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt …«
    In seinem langen Leben hat Goethe viele Male, in Zeitbrüchen, die manchmal katastrophische Züge annahmen und die wir heute, da wir mit ungleich drastischeren Mitteln ungleich entsetzlichere Katastrophen ausgelöst haben, in ihrer Auswirkung auf die Psyche der Mitlebenden wohl nicht einschneidend genug einschätzen – in dieser seiner wechselvollen Zeit hat Goethe viele Male die Gelegenheit gehabt, an sich und anderen das Mit-Wandern des »blinden Flecks« zu beobachten. Eine von dessen Eigenschaften ist es ja, sich den Gegebenheiten anzupassen und an den Personen auch in neuen Verhältnissen haftenzubleiben. Nicht zuletzt war es seine Hellsichtigkeit, die Goethe unter seinen Zeitgenossen manchmal einsam sein ließ. Daß die Zeit sich auf einen unlösbaren Widerspruch zubewegte, konnte er erst gegen Ende seines Lebens sehen, als die Umrisse der neuen Epoche, von Geld und Habgier, von den ungeahnten Möglichkeiten der modernen Maschinen zu neuem mörderischen Tempo angetrieben, immer deutlicher hervortraten und ihn um der dichterischen Wahrheit willen zwangen, Faust, die Hauptfigur seines Lebens, in ihren Bann zu stellen. Er wußte, das Bild eines schuldbeladenen, maßlosen, scheiternden Faust würden seine »lieben Deutschen« ihm nicht gerne abnehmen. Und er, in seinem hohen Alter, hätte sich ihre wahrscheinlich verständnislosen Kommentare nicht gerne angehört. In
die »deutsche Misere« – das Wort sei hier zum letzten Mal gebraucht – waren auch die deutschen »Klassiker« eingebunden.
    In den letzten Teilen des Faust lesend, weht mich manchmal ein Geist an, den ich – ganz behutsam sei es angedeutet – in Äußerungen zeitgenössischer Physiker zu spüren meine. Ein Erstaunen, eine Ehrfurcht vor dem Unbeschreiblichen, ein bescheidenes Zuerkennen, daß sie das Ziel ihrer Bemühungen, die Struktur der Wirklichkeit zu erfassen, zu sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, niemals erreichen werden, da unser Blick, unsere Beobachtungsinstrumente diese Wirklichkeit verändern. Daß unsere Blindheit gegenüber den letzten Wahrheiten in das Netzwerk, dem wir auch selber angehören, mit eingewebt ist. Oft gestehen

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