Rede, dass ich dich sehe
den Treffen am Müggelsee, aber auch von Ihrem Buch und von Aufsätzen, die ich las, von Fernsehauftritten, bei denen ich Ihnen zusah und zuhörte.
Wiederum: alles politisch, was sonst? Ich kann mir keine »öffentliche« Minute vorstellen, in der Egon Bahr nicht »politisch« ist. (Was ja auch heißt, daß er seine Äußerungen andauernd kontrollieren muß: Wie schaffen Sie es, daß diese Dauerbeherrschung nicht auch die innersten Regungen ergreift und lähmt?) Ich erlebte Sie als einen Menschen, der durchglüht ist von der Leidenschaft zur Politik, ohne dabei im mindesten direkt nach Macht zu streben. Nach Einfluß – ja, weil Sie sicherlich wußten, daß Sie, mehr als die meisten anderen, in der Lage waren, das oft wirre Gewebe der internationalen Politik zu durchschauen und, was nur sehr wenige Politiker können oder wollen, vorauszusehen, wie die einzelnen Fäden in der Zukunft verlaufen und
was man, unter den gegebenen Umständen, tun kann, um sie am besten in das von Ihnen gewünschte Muster einzufügen. Unnötig zu sagen, daß dieses Muster nicht willkürlich von Ihnen entworfen wurde, sondern nach einer gründlichen Analyse aller beteiligten Faktoren und mit kühl kalkulierendem Kopf.
So weit, so gut. Aber wo liegt da die Konfliktmasse? Sie liegt, glaube ich, in der unlöslichen Verbindung Ihres Vermögens zu messerscharfer Analyse mit mehreren für Sie wahrscheinlich unbequemen Anlagen: Es ist Ihnen nicht gegeben, sich selbst zu betrügen, und: Sie haben die Gabe, sich in andere Menschen einzufühlen. Sie sind anfällig für Kunst: Sie lieben Musik. Ein derart zusammengesetzter Charakter ist, wie Conrad Ferdinand Meyer sagen würde, »kein ausgeklügelt Buch«, sondern »ein Mensch mit seinem Widerspruch«. Denn gar nicht so selten, stelle ich mir vor, gehen und gingen bei heiklen politischen Entscheidungen Ihre inneren Strebungen in verschiedene Richtungen auseinander. Mehr und mehr hat Ihr Werdegang Sie gelehrt, auf den nüchternen Kalkulator, auf die Stimme des Realisten in sich zu hören. »Ich will, weil ich muß!« sagen Sie einmal. Und genau an dieser Stelle würde ich jetzt gerne das Gespräch, das wir damals nicht führen konnten, mit Ihnen aufnehmen, und zwar mit der scheinbar simplen Frage: Was ist »realistisch«?
Das wäre ein Gespräch über die Frage, ob in einem an pragmatische Notwendigkeiten gebundenen und gewöhnten Denken radikale Fragestellungen überhaupt Platz haben, ob Sie die überhaupt zulassen. (»Radikal« im Sinne von: ein Problem an der Wurzel packend.) Oder kommen die Ihnen, da sie zumeist zu Ergebnissen führen, die »nicht machbar« sind, schlicht »unvernünftig« vor? Andererseits: Visionen hatten Sie – wie hätten Sie sonst in ungünstigster Zeit von der Verständigung und sogar Wiedervereinigung der Deutschen träumen können, ziemlich allein auf weiter Flur? Wiederum andererseits: Wo sehen Sie die Grenzen des Pragmatismus? – Als Beispiel: Ahnten Sie, wie Sie viele Ostdeutsche verprellten, als Sie – nach Jahr
zehnten, zugegeben – Adenauer dafür lobten, daß er Globke in sein Kabinett geholt und damit die Integration alter Nazis in die Bundesrepublik befördert hatte? Genau diese Politik Konrad Adenauers hatte uns die Bundesrepublik für viele Jahre suspekt gemacht. Manchmal, besonders beim Lesen Ihres Buches, dachte ich: Diese gar nicht so kleine Schar von kritischen DDR -Bürgern kommt bei Ihnen nicht vor; sie wird nicht wahrgenommen; kann das daran liegen, daß Ihre strikte Gegnerschaft gegen den Kommunismus etwas wie einen blinden Fleck für solche Phänomene erzeugt hat? Daß die nationale Frage (zu) deutlich Priorität bekam vor der sozialen Frage? Es scheint so, als hätten alle achtzehn Millionen DDR -Bürger vierzig Jahre lang der Wiedervereinigung entgegengefiebert, die ja das Thema Ihres Lebens war. So war es aber nicht, und daß die Gründe dafür auch von Ihnen nicht – nicht einmal von Ihnen – reflektiert wurden, zeigt, wie vertrackt die Verhältnisse waren: Die DDR -Bevölkerung war Manövriermasse, über ihre Köpfe hinweg wurde – zu ihren Gunsten, so war es gemeint – zwischen sowjetischen und bundesdeutschen Politikern verhandelt. Subjekt der Geschichte war sie nicht, wurde sie ein Mal für wenige Wochen im Herbst 1989, um dann wieder in den Objekt-Status zurückzufallen oder gestoßen zu werden. (»Als ob Schäuble mit sich selbst verhandelte«, so beschreiben Sie die Situation am Verhandlungstisch zur deutschen Einheit.) Die Folgen
Weitere Kostenlose Bücher