Rede, dass ich dich sehe
werdenden abgesperrten Zonen um Zusammenkünfte von Politikern wie den G8-Gipfel. Gefängnisse. Irrenhäuser. Schulen, die zu Hochsicherheitstrakten werden. Raketenversuchsgelände. Die ganze schöne neue Welt.
Wir doktern an einzelnen Symptomen herum, indem wir Gelder hin und her schieben, hauptsächlich aber, indem wir Machtinstrumente verstärken, um der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«? Ich weiß doch nicht, ob Hölderlins Wort noch gilt. Die absurde Lage, in der wir uns befinden, ist es ja, daß wir von den zerstörerischen Mächten abhängig sind; daß wir mit ihnen in einem Boot, richtiger: in einem Kriegsschiff sitzen und ihr Untergang uns mit hinabreißen würde. Sie können es verhindern, daß die erforderlichen Mengen Strom gespart werden, weil dies ihren Gewinn schmälern würde: nur ein jüngstes Beispiel. Und massenhafter Verzicht auf Konsum, der ihrer Überproduktion den Boden entziehen würde, ist nicht oder noch nicht durchzusetzen, davon abgesehen, daß viele Menschen, die diese Produkte herstellen, arbeitslos würden. Die große Frage ist, ob die Kräfte, die Alternativen schaffen, schnell genug wachsen können. Mich begleitet seit Jahren eine Zeile der Karoline von Günderrode, eine Dichterin der Nach-Goethe-Generation, die sich, noch jung, selbst entleibt hat, die scharf den Grundwiderspruch der heraufkommenden Jahrhunderte gesehen hat: daß sie gezwungen sein würde, »was mich tötet, zu gebären«.
2007
3.
Mit Realitäten umgehen, auch wenn sie einem nicht gefallen
Egon Bahr zum achtzigsten Geburtstag
Lieber Egon Bahr,
wissen Sie noch, wann wir uns zum ersten Mal trafen? Ich weiß es. Es war in den achtziger Jahren, es war die Zeit, da viele Menschen, besonders viele Künstler, die DDR verließen, es war in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, bei einem ihrer Empfänge, in meiner Erinnerung kamen Sie aus der Tür eines Nebenraumes und standen plötzlich vor mir. Man wollte uns einander vorstellen, wir versicherten beide, daß das nicht nötig sei. Wir begrüßten uns. Dann sagten Sie – ich kann mich noch an Ihren Gesichtsausdruck dabei erinnern: Ich hoffe, Sie halten durch und bleiben hier. Meine Antwort war: Keine Angst. Wir bleiben.
Danach hätten wir den ganzen Abend lang, nein: die Nacht durch und vielleicht weitere Tage und Nächte miteinander reden müssen, denn hinter jedem unserer kurzen Sätze lag ein Leben, lagen sehr verschiedene Leben, vielleicht sogar paradigmatische Lebensläufe für Sozialisten in der Bundesrepublik und in der DDR . Dieses lange Gespräch konnte damals nicht zustande kommen, und es fällt mir gar nicht leicht, mir vorzustellen, wie es verlaufen wäre; wo die Übereinstimmungsfelder gelegen hätten, wo die Punkte von Dissens. Was konnte ich damals von Ihnen wissen? Daß Sie ein enger Vertrauter von Willy Brandt waren; daß Sie den Satz »Wandel durch Annäherung« erfunden hatten und im Sinne dieses Satzes tätig geworden waren – was auch hieß, in den Führungskreisen der DDR Verunsicherung und Abwehr auszulösen. Daß Sie an der Ausarbeitung des »Papiers« über die Beziehungen zwischen der westdeutschen Sozialdemokratie und der SED maßgeblich beteiligt waren. Wie
auch immer ich dazu stehen mochte – es waren alles offizielle Informationen; über den Menschen Egon Bahr wußte ich nichts. Allerdings: Als Politiker hielt ich Sie für glaubwürdig, eine Eigenschaft, die ich schon damals nur noch sehr wenigen Politikern in Ost und West zusprach.
Weiß ich jetzt mehr über den Menschen Egon Bahr? Einen mir wichtigen Aufschluß gab mir – auch das kommt ja vor – das Fernsehen. Genauer: die Übertragung des Rücktritts von Willy Brandt. Man sah Egon Bahr weinen. Danach stiegen meine Sympathie, mein Respekt für Sie und meine Neugier auf Sie. (In Ihrem Buch las ich dann, Sie hätten »nicht über den Rücktritt geweint, sondern über Gemeinheit und Heuchelei«.) »Neugier« heißt bei mir, daß ich mich für die Widersprüche interessiere, mit denen ein Mensch sich auseinandersetzen muß, und für die Konflikte, die er unvermeidlich dabei durchlebt. Es wäre vermessen, zu behaupten, nun würde ich »den Menschen« Egon Bahr kennen. Aber die Jahre nach der Wende, und besonders die letzten Jahre, brachten mir doch Begegnungen mit Ihnen, die mein sehr unvollständiges Bild von Ihnen bereicherten, es farbiger und kontrastreicher machten. Ich spreche vom Willy-Brandt-Kreis, von
Weitere Kostenlose Bücher