Rede, dass ich dich sehe
Schriftsteller haben sich wundgerieben an den deutschen Zuständen. Auf ihre Zeugnisse sind wir heute angewiesen, wenn wir in das innerste Wesen ihrer Zeit eindringen wollen. Was ihr scharfer, oft überscharfer Blick gesehen hat, hat ihr Jahrhundert überdauert.
Aus dieser historischen Erfahrung hat sich die Legende entwickelt, bedeutende Literatur und Kunst brauche es geradezu, daß die Schriftsteller und Künstler zu ihrer Lebenszeit verkannt würden und daß erst die Nachwelt sie zu rühmen wisse. Wir erleben heute, wie die Nachwelt – besonders für Werke bildender Künstler, die nicht selten gehungert haben – phantastische Summen als Geldanlage ausgibt und phantastische Summen an ihnen verdient. Dieser Zynismus geriert sich als Normalität. Der Kunstbetrieb als Markt, die Kunst als Ware ist eine besondere, aktuelle Abart der bürgerlichen Kunstmanipulation, auch Kunstvernichtung, auf die ich hier nicht eingehen will.
Aber es gab doch Ausnahmen. Es gab doch die Klassiker, unsere »Dichterfürsten«, es gab doch Goethe und Schiller, und es gab allerdings das Bedürfnis eines pseudogebildeten deutschen Bürgertums, diese beiden Gestalten zu idyllisieren. Wenigstens sie sollten frei sein von Widersprüchen und Konflikten, wenigstens sie sollten verschont geblieben sein von Brüchen und Krisen in ihrem Leben. Als Beweis dessen galt, jedenfalls für Goethe, die Figur des immer strebend sich Bemühenden, des Faust, der, positiv dem stets verneinenden Mephisto gegenübergestellt, verdientermaßen seine Seele dem Teufel entwindet. Wenn einer, war dies ein deutscher Mann, mit dem man sich identifizieren konnte: von gehöriger Tiefe des Gemüts, Gelehrter, Wissenschaftler, Tatmensch. Der große Schlußmonolog des Faust: »Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn«, wurde in den Schulen der DDR als eine Vorausschau des alten Goethe auf die Bodenreform interpretiert.
Und ist doch eine der tragischsten Stellen in unserer Literatur. Allerdings: Leicht hat es Goethe seinen Interpreten nicht gemacht, und das wußte und wollte er auch. In den Jahrzehnten, in denen dieses Werk in ihm heranreifte, wurde es beiseitegelegt, wieder vorgenommen, mit neuen, von Umbrüchen begleiteten historischen Erfahrungen angereichert, die die Figur in Lebensumstände trieben, die der junge Goethe, als er sie zuerst ins Auge faßte, nicht voraussehen konnte und die diese Figur natürlich veränderten. Eine Faszination ging für ihn und geht für uns heute von ihr aus, die nicht leicht bündig zu erklären ist. 1828, als er das »Hauptgeschäft« wieder vorgenommen hat, schreibt Goethe an seinen Freund Zelter nach Berlin: »Bis jetzt, denk' ich, hat ein guter Kopf und Sinn schon zu tun, wenn er sich will zum Herrn machen von allem dem, was da hineingeheimnisset ist.« Eine Auflösung aller Geheimnisse hat er nicht gewollt, und wir sollten sie nicht anstreben.
Zurück also zum hundertjährigen Faust, fünfter Akt, Palast. Der Alte, »Herr« und »Patron« auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Lynkeus der Türmer: »Dich grüßt das Glück zur höchsten Zeit.« Doch Faust, Besitzer großer Ländereien, die er dem Meer abgewinnen ließ, wie er es sich erträumt hatte, reich, umgeben von einer botmäßigen Dienerschaft, keinem Herren untertan – Faust ist in tiefer Seele unzufrieden: »Vor Augen ist mein Reich unendlich / Im Rücken neckt mich der Verdruß«: Ein Lindenhain mit einer bescheidenen Hütte, in der zwei alte Leute wohnen, ein »morsches Kirchlein« gehören ihm nicht. Zu Mephisto: »Dir Vielgewandtem muß ich's sagen, / Mir giebt's im Herzen Stich um Stich, / Mir ist's unmöglich zu ertragen! / Und wie ich's sage, schäm' ich mich. / Die Alten droben sollten weichen, / Die Linden wünscht' ich mir zum Sitz, / Die wenigen Bäume, nicht mein eigen, / Verderben mir den Weltbesitz.« Diese Zeilen sollen hier so ausführlich stehen, weil sie bezeugen, wie genau der alte Goethe in die Psychologie der
neuen Zeit eingedrungen war, in das maßlose Besitzverlangen der neuen heraufkommenden Klasse der Kapitalisten. Nichts mehr vom Wissensdrang des frühen Faust, der danach dürstet, zu erkennen, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«, einen großen Lebensbogen hat dieser Faust durchschritten, von Zaubersprüchen begleitet, der Magie verschrieben, in die verschiedensten Schichten der Gesellschaft, in unterschiedliche Rollen geworfen, Verbrechen, Täuschung nicht scheuend, immer stärker auf den eigenen
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