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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sie, daß sie, je tiefer sie eindringen in die Welt, in den »Tanz« der kleinsten und immer noch kleineren Teilchen, um so mehr von der Sprache verlassen werden und sich nur noch in Gleichnissen ihren hoch unsicheren Sachverhalten nähern können. Ich glaube, daß der alte Goethe diesen Zustand der entzückten Sprachlosigkeit vor der Einsicht in die Natur der Dinge, die ihm zuteil wurde, gekannt haben muß. »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis.« Man wird jedesmal, wenn man sich neu diesem Teil des Faust nähert, neues finden und manches auf neue Weise oder jetzt zum ersten Mal zu verstehen glauben.
    »Das ewig Weibliche / Zieht uns hinan.« In ihrer Mehrschichtigkeit nicht leicht verständliche Zeilen, über die ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Ich setze sie, vielleicht zu kühn, in Verbindung mit einem früheren Komplex, da Mephisto den nach Helena verlangenden Faust auf die Möglichkeit verweist, sie heraufzuholen: »Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, / Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; / Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. / Die Mütter sind es!« – »Mütter!« – »Schaudert's dich?« – Allerdings. Fausten schaudert's, und ich wage zu vermuten, auch Goethen war es unbehaglich bei der Nennung jener »Göttinnen, ungekannt«, jener frühesten
mütterlichen Wesen, von denen weder er noch seine Zeitgenossen etwas Nennenswertes wissen konnten. Zu Eckermann, der ihn nach dem Ursprung dieses Einfalls fragt, sagt er: »Ich kann Ihnen weiter nichts verraten, als daß ich beim Plutarch gefunden, daß im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen. Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke, das übrige ist meine eigene Erfindung.« Kann dieses unwillkürliche Erschauern beim Rückblick auf eine Vorzeit, die durch die Jahrtausende den sehr späten Nachgeborenen nichts als eben dieses Gefühl des Unheimlichen überliefert hat, »Erfindung« sein? Ist es nicht eher eine Ahnung, daß sie es waren, die »Mütter«, die, beinahe zeugnislos im Dunkel der Frühgeschichte versunken, jenes Netz zu knüpfen begannen, dessen Kettfäden bis heute die Muster unseres Denkens und Fühlens prägen? Merkwürdig schwer fällt es dann den Archäologen der nächsten zweihundert Jahre, anzuerkennen, daß sie im tiefsten Grund ihrer Ausgrabungen immer auf weibliche Gottheiten stoßen. Die haben, inzwischen in den Glaubensbekenntnissen der Menschen, eingehämmert durch die Männer, einen langen, schwierigen Prozeß der Umdeutung erfahren, in dessen Verlauf sie verleumdet, entwürdigt, in Ungeheuer verwandelt, entmachtet wurden, während die große Schar der weiblichen Göttinnen und Naturgeister gewaltsam von dem männlichen Götterhimmel okkupiert wurde; während Männer das Priesteramt, die Heilkunst, die Lenkung der Gemeinschaften von den Frauen eroberten. Nun hatten Frauen keine Stimme mehr im Rat, kein Mitspracherecht bei der Erbfolge. Der Sohn sollte nur der Sohn des Vaters sein. Doch noch in den Dramen der großen Griechen, Jahrhunderte nach dieser Frühzeit, finden sich Nachklänge der heiligen Scheu vor der Frau: Orest, der, im Blutrachegesetz verfangen, den ermordeten Vater an der Mutter rächt, wird durch Aischylos, gegen dessen inneren Widerstand, von der ästhetischen Wahrheit gezwungen, in einem unlösbaren Konflikt gezeigt. Immer noch gilt Muttermord den Menschen, trotz aller Anstrengungen des Patriarchats, die Mut
ter zu entwerten, als eine über jedes andere Verbrechen grauenhafte Untat. Nie durfte der Sohn sich an der Mutter vergreifen. Die Frau war tabu. So sehr der Autor sich auch bemüht, die Tat nach den neuen Gesetzen als »gerecht« hinzustellen, er kann nicht umhin, die Gewissensnot des Muttermörders Orest in bewegenden Worten zu schildern:
     
    »Und tief im Herzen sitzt die Angst
    Und singt und fängt zu tanzen an.
    Darum, solang ich noch bei Sinnen bin
    – Bin ich es noch? –
    Sag ich euch schnell:
    Es war gerecht, daß ich die Mutter tötete
    Die gottverhaßte Frau –
    Ein Scheusal, das die Erde haßt!«
     
    Vaterrächer oder Muttermörder? Der Zwiespalt im Mann, der unaufhörlich geleugnet, übertüncht, umgedeutet, verdrängt werden muß, bringt Angst, Haß, Feindseligkeit hervor. Es ist der Preis der Macht, die der Patriarch, um seine Schwäche – auch vor sich selbst – zu kaschieren, über alle anderen Werte stellen muß. Die Frau aber muß er entwirklichen, indem er sie zum Objekt macht. Das Epos, die Geschichtsschreibung folgt der

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