Rede, dass ich dich sehe
dieser unglücklichen Entwicklung erleben wir heute, Sie sehen sie scharf und tun das Ihre, sie zu mildern.
»Mit Realitäten umgehen, auch wenn sie einem nicht gefallen« – das kann man bei Ihnen lernen. Man kann lernen, wie jemand sich fair einläßt auf Widersprechende, wenn sie ehrenhafte Motive haben. Ihr Sinn für Gerechtigkeit und Anstand bewährt sich auch dann, wenn Gegner ungerecht und unanständig gegen Sie vorgehen. (»Anstand« – was für ein altmodisches Wort, mir ist es eine Maßeinheit für Menschen.) Und Sie beobachtend erfährt man manches darüber, wie schwierig es sein kann, Moral und aktives Leben miteinander zu vereinba
ren. »Die Maßstäbe des eigenen Verhaltens und Urteilens in sich selbst zu finden ist sehr schwer« – Sie sagen das von einem anderen, es ist aber aus eigener Erfahrung gesagt. »Daß der einzelne Mensch sich in Würde verwirklichen soll« und daß »Freiheit und Gerechtigkeit in der Würde enthalten« sind – das ist der Kern Ihrer Überzeugung, für Sie unantastbar. Die Nachricht, die NATO wolle mit Neutronenbomben nachrüsten, stellt ihn in seiner Substanz in Frage. »Das wäre eine Perversion des Denkens«, empfinden Sie und schreiben es, spontan, und publizieren es, ohne sich durch das Bedenken abhalten zu lassen, ob dieser Ausbruch politisch klug ist. Mit Genugtuung stellen Sie dann fest, was Ihnen wichtig ist: »Der Verstand bestätigte die Moral.« Wenigstens in diesem Fall.
Mehrmals habe ich miterlebt, wie Sie einen für Sie hohen Wert – Gewaltverzicht (das zweite Grundthema Ihres politischen Lebens) – abwägen mußten gegen ein realpolitisch erwünschtes Verhalten: Loyalität gegenüber den Verbündeten; es siegte (wenn man dieses strahlende Wort hier brauchen darf) die Loyalität; manche Ihrer Freunde folgten Ihnen da nicht, auch ich nicht. Dann erlebte ich Sie, wie Sie, ohne eine einzige Notiz zu bemühen, dreiviertel Stunden lang klar gegliedert, druckreif die aktuelle Lage schilderten und daraus Ihre Meinung begründeten, warum die Deutschen sich am Afghanistan-Krieg der USA beteiligen müßten. Es schien so, als könne man zwischen Ihre dicht gefügten Argumente kein Blatt Papier stecken. Aber als ich Sie nach einer längeren Diskussion fragte: Also haben wir nur die Wahl zwischen Pest und Cholera?, da erwiderten Sie: So sehe ich das. Ja.
Lieber Egon Bahr, dieser kurze Text, dem man vielleicht nicht anmerkt, daß es ein Glückwunsch ist, hat mich mehrere Tage in Ihrer Nähe gehalten. Am Ende bin ich nachdenklicher als am Anfang. Sie werden achtzig. Ist die Welt besser geworden während Ihrer Lebenszeit, oder, was Sie so sehr wünschen würden: vernünftiger? Da möchte man sich ein Wörtchen aus Kleists Amphitryon leihen: Ach!
Typisch Künstler, nicht wahr? So emotional geht es bei Ihnen nicht zu. Sondern so: »Versäumt die Menschheit, der Vernunft zu folgen? Werden ihre Politiker mehr den legitimen Interessen der Macht als Einsicht und Gewissen folgen? Dann müßte man pessimistischer sein, als erlaubt ist.« – Als Sie es sich erlauben, nicht wahr?
Also: Auf ein Neues, verehrter Herr Sisyphos!
Ihre Christa Wolf
2002
Ein besonderes, unvergeßliches Licht
Paul Parin zum neunzigsten Geburtstag
Lieber Paul Parin,
selten kann man einem Menschen, der einem nahesteht, zu seinem neunzigsten Geburtstag gratulieren; und sehr selten gehört dieser Mensch zu denjenigen, die im eigenen Leben Wichtiges bewirkt haben. Ich hoffe, Sie wissen, daß Sie für mich einer von diesen Menschen sind; jedenfalls will ich es Ihnen heute sagen. Wir kennen uns mehr als zwanzig Jahre. Ihr erstes Buch schenkten Sie mir 1985, es war einer Ihrer Berichte über Ihre Afrikareisen: Zu viele Teufel im Land . Sie reisten mit Ihren Gefährten ins Herz der Finsternis, und ich glaube, das taten Sie auch sonst, ob Sie als Arzt bei den Partisanen in Jugoslawien waren oder als Psychoanalytiker in das Dunkel der Seelen Ihrer Patienten eintauchten. Sie waren unerschrocken, und Sie waren und sind neugierig. Und was ich von Ihnen zu hören und zu lesen bekam, hat meine Weltsicht beeinflußt und meine eigene Neugierde angestachelt.
Ob wir in Ihrer winzigen Zürcher Küche von Goldy mit einem Steak bewirtet wurden, ob wir in einem Berliner Restaurant zusammensaßen oder in unserer Berliner Wohnung, dabei, in meiner Erinnerung, pausenlos miteinander redend: Bei Goldy und bei Ihnen fanden wir, was wir am dringendsten brauchten: Ermutigung. Dabei waren Sie beide illusionslos. »Wir
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