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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Augenblick

    Nobunaga:  Nakanu-nara, koroshite shimau, Hototogisu
    Wenn er nicht singt, bring ich ihn um, den Kuckuck.
     

    Hideyoshi:  Nakanu-nara, nakasete miyō, Hototogisu
    Wenn er nicht singt, bringen wir ihn zum Singen, den Kuckuck.
     

    Ieyasu:  Nakanu-nara, nakumade matō, Hototogisu
    Wenn er nicht singt, dann warten wir, bis er singt, der Kuckuck.
     
    Einer meiner Enkelsöhne ist augenblicklich in Japan und widmet sich mit Freude der japanischen Kultur. Er schickte mir zum Geburtstag drei Haikus, die von den drei berühmten Reichseinigern überliefert sind.
    Der erste: Wenn er nicht singt, bring ich ihn um, den Kuckuck.
    Der zweite: Wenn er nicht singt, bringen wir ihn zum Singen, den Kuckuck.
    Der dritte: Wenn er nicht singt, dann warten wir, bis er singt, der Kuckuck.
    »Geschichte über Gedichte« nennt mein Enkelsohn das. Für mich sind es Gleichnisse über die Poesie, die Lust am Schöpferischen. Alle drei Methoden habe ich selbst erlebt oder miterlebt. Am meisten mußte ich jetzt aber über die zweite nachdenken: Wie »bringen wir ihn zum Singen«, den Kuckuck? Was für Stimulantien haben wir? Spazierengehen? Lesen? Joggen? Musik hören? Drohen? Ihn kritisieren? Das hilft ja manchmal auch, bringt aber wohl nicht den schönen, freien Gesang hervor.
    Am meisten hilft wohl: ihn, den Gesang, freudig erwarten, ihm aufmerksam zuhören, wenn er denn singt, und ihn so zur Wiederholung anreizen. Ihm mit Verständnis begegnen. »Verständnis« ist für mich ein Schlüsselwort – im Leben wie beim Schreiben. Als ich das Büchlein aufschlug, kam mir ein warmer Luftstrom entgegen – soviel Zuwendung, Verständnis, Freundschaftlichkeit von so vielen Kolleginnen und Kollegen, auch von vielen jüngeren, das hatte ich wirklich nicht erwartet.
    Die positiven Eigenschaften, die einem an solchem Tag zugeschrieben werden, kann man ja mit Skepsis betrachten – man kennt ja ihre Kehrseite, man weiß, daß man jede positive Eigenschaft auch negativ deuten kann. Die Äußerungen über die Wirkung der Arbeit und der Person auf andere muß man einfach entgegennehmen, bis zu einem gewissen Grad auch glauben. Man hat ja diese Wirkung nicht absichtlich erzeugt, wenn das der Fall wäre, bliebe sie ja aus.
    Achtzig werden ist ein zwiespältiger Vorgang: Die Zahl markiert die Schwelle zwischen älter werden und alt sein, das ist nicht lustig. Andererseits: So alt geworden zu sein – für alles, was ich in jedem Jahrzehnt erleben durfte, dafür bin ich dankbar. Dieses Alter hat also ein Janusgesicht wie so vieles im Leben.
    Gerhard, mein lieber Mann, sagte mir, ich solle in meiner kleinen Rede ein Goethezitat unterbringen – Goethe sei immer gut. Wie immer gehorche ich ihm und sage Ihnen einen Spruch, der mich seit Jahren und auch besonders in den letzten Tagen begleitet:
     
    »Ich weiß, daß mir nichts angehört
    Als der Gedanke, der ungestört
    Aus meiner Seele will fließen,
    Und jeder günstige Augenblick,
    Den mich ein liebendes Geschick
    Von Grund aus läßt genießen.«
     
    Jetzt ist so ein günstiger Augenblick für mich. Sie haben ihn mit geschaffen, und ich bitte Sie, ihn mit mir zu genießen.
    Wir werden ihn schon zum Singen bringen, den Kuckuck!
     
    2009

4.

     

An Carlfriedrich Claus erinnern

    Wenn ich mir ein Erinnerungsbild von Carlfriedrich Claus heraufrufe, sehe ich eine zierliche Gestalt mit einem großen Kopf. Das ist merkwürdig, weil es der wirklichen Erscheinung von Carlfriedrich Claus nicht entspricht. Er war zart, ja, aber Kopf und Gliedmaßen standen im durchaus angemessenen Verhältnis zueinander. Meine Wahrnehmung des dominanten Kopfes erkläre ich mir aus der Tatsache, daß Claus sich als Künstler der Erforschung der Prozesse gewidmet hat, die in diesem Kopf, unter dieser oft als Umriß auf seinen Blättern auftauchenden Schädeldecke stattfinden. Feinste, beinahe unstoffliche Vorgänge werden in allerfeinsten Linien, die aus Schriftzeichen bestehen, aufgefangen und zueinander in Beziehung gesetzt. Wie ein Mensch seine ganze Welt, alles, was er ist und erfahren hat, in jeder Sekunde als Inhalt seines Gehirns mit sich trägt, so trug Carlfriedrich Claus sein ganzes auf hauchdünne Blätter gezeichnetes Werk in einer Aktentasche mit sich herum – was jedem, der das wußte und seine singuläre Bedeutung erkannte, Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte. Aber ein gut gesichertes Bankfach kam lange Zeit für ihn nicht in Frage.
    So war er, arglos. Das hat ihn angreifbar

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