Rede, dass ich dich sehe
dort gewachsen ist. Und eben dieses Bild hängt in unserem Zimmer, ich sehe es jeden Tag und werde seiner nie überdrüssig.
Wir wissen, daß wir die Beschaffenheit, die Atmosphäre, den Zauber eines Landes, die Mentalität seiner Bewohner durch die Literatur erfahren können, die dort entstanden ist (auch dann, wenn sie von vertriebenen Schriftstellern außerhalb ihres Landes geschrieben werden mußte). Nachdenkend über meine Vorstellung von Spanien, tauchten natürlich Namen von Autoren, Titel von Büchern vor mir auf. Früh las ich zum Beispiel, beeindruckt, Auf der Plaça del Diamant von Mercé Rodoreda, las die Bücher der Ana María Matute, der ich einmal persönlich begegnete, nenne hier auch, obwohl sie keine Spanier sind, die großen spanischsprachigen Autoren Lateinamerikas, Neruda, Cortázar, Borges, Mario Vargas Llosa, Onetti. Das Werk von Jorge Semprún hat mich begleitet. Federico García Lorcas Schicksal war uns gegenwärtig, einige seiner Stücke liefen auf unseren Bühnen in eindringlichen Inszenierungen, besonders erinnere ich mich an eine von Poesie getragene Aufführung von Doña Rosita bleibt ledig . Lorca, der geschrieben hat: »Ich weiß, daß nicht der recht hat, der ›sofort, sofort, sofort‹ sagt, wobei er seine Augen auf die kleinen Schlünde der Schalter heftet, sondern der, der ›morgen, morgen, morgen‹ sagt und das neue Leben kommen fühlt, das über der Welt schwebt« – Worte, die heute nicht mehr geschrieben werden könnten. Und um ein wichtiges Genre nicht auszulassen, nenne ich noch die Namen zweier Filmregisseure: Buñuel und Carlos Saura.
Sie verstehen: Ich strebe hier keine vollständige Aufzählung
spanischer Autoren und Künstler an, die mir begegnet sind. Was mir, indem ich mich ihrer erinnere, erneut bewußt geworden ist: daß ein Volk seine Literatur und Kunst braucht, um Zusammenhalt zu erfahren, um sich zu erkennen, sich zu sehen , um seine Identität zu finden, die sich ohne diese Bindemittel nicht entwickeln würde. (In dem Buch eines Autors einer jüngeren Generation, in dem ich gerade lese – Antonio Muñoz Molina –, der über die Sehnsucht eines Bauernjungen nach der Reise zum Mond schreibt, finde ich den Satz: »Vom Weltraum aus gesehen, ist Spanien wunderschön.«)
Mario Vargas Llosa sagt in seinem Text über den Geschichtenerzähler, dessen Wirken bis in die Vorgeschichte der Menschheit zurückreicht und der uns dazu bringt, zu phantasieren und zu träumen: »Wir phantasieren und träumen gerade das, was wir nicht leben, eben weil wir es nicht leben, aber gern leben würden. Deshalb denken wir uns ein anderes Leben aus«, ein Leben, das Vargas Llosa einen »magischen Spiegel« nennt, der uns lebenswichtig ist – auch denen lebenswichtig ist, die nicht in ihn hineinblicken. Wie Vicente Aleixandre es in einem Gedicht ausgedrückt hat:
»Für wen schreibe ich? so fragte mich der Chronist, der Journalist oder ganz schlicht der Neugierige.
Ich schreibe nicht für den Herrn im vornehmen Jackett, nicht für seinen verärgerten Schnurrbart, nicht einmal für seinen erhobenen tadelnden Zeigefinger in den traurigen Wellen der Musik. …
Ich schreibe für die vielleicht, die mich nicht lesen. Für jene Frau, die durch die Straße läuft, als wollte sie die Tore dem Frührot aufschlagen. …
Für alle schreibe ich. Für die vor allem, die mich nicht lesen.«
Dieses in Wirklichkeit viel längere Gedicht, auf deutsch veröffentlicht in dem Band Nackt wie der glühende Stein , wurde von Erich Arendt übersetzt, dem großen Mittler zwischen der spanischsprachigen und der deutschen Literatur, der im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner war. Auch das Werk von Miguel Hernández, der im Gefängnis starb, hat er nachgedichtet, ebenso das von Rafael Alberti. Ich blättere in dem Band Stimme aus Nesselerde und Gitarre und stoße auf die »Erinnerungen an die beständige Dichtung« – Zeilen, mit denen ich diese Danksagung beenden möchte:
»O Dichtung, herrlich, streng und sanft,
mein einzig Meer zuletzt, das immer wiederkehrt!
Wie wolltest du zurück mich lassen, wie könnte ich,
blind, eines Tages daran denken, dich zu lassen?
Was mir verbleibt, was ich besaß, bist du,
seit ich das Licht erblickte, ohne zu verstehen.
Treu im Glücke, treu im Ungemach,
an deiner Hand im Frieden
und im unglückseligen Gedröhn
von Blut und Krieg, an deiner Hand.«
2010
Kuckucksrufe
Kleine Rede zu einem günstigen
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