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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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bewegten. Mit einem Kopf, den du mir geschenkt hast, der ein etwas kleineres Format hatte, sage ich, ist mir folgendes passiert: Er hing in meinem Arbeits- und Schlafzimmer in Mecklenburg und starrte mich die ganze Zeit auf bohrende Weise an. Ich mußte ihn weghängen, in eine andere Ecke, von wo aus sein Blick mich nicht traf.
    Solche Wirkungen habe er nicht vorausgesehen, sagt Martin Hoffmann, und nicht gewollt, allerdings erfahre er nach Ausstellungen von manchen Betrachtern ähnliche Reaktionen. Es gebe auch Abwehrhaltungen.
    Wahrscheinlich, sage ich, fühlt mancher sich belästigt, vielleicht sogar angegriffen durch den Absolutheitsanspruch, den diese Köpfe anscheinend ausstrahlen. Daß sie den Kompromiß verweigern. Dies war es wohl – unter anderem –, was mir, als ich zuerst mit ihnen konfrontiert wurde, das starke Gefühl von »zeitgenössisch« aufdrängte.
    Wie kam dieser Eindruck zustande? Diese Mitlebenden wissen Bescheid, sie sind allen Einflüssen und Erfahrungen des Jahrhunderts ausgesetzt. Geben nicht auf. Eine gewisse Tapferkeit ist ihnen mitgegeben.
    Frühere Bemühungen, sagt Martin Hoffmann, Köpfe zu zeichnen oder zu malen, seien »flach« geblieben. Erst die Technik der Collage habe es ihm ermöglicht, das, was einer nach dem 20. Jahrhundert von den Verletzungen und Mißachtungen des »Menschen« auf der einen Seite und seinen Möglichkeiten andererseits wissen kann, in einer bildnerischen Darstellung
ahnbar zu machen – das jedenfalls zu versuchen. Möge es anmaßend klingen, aber Auschwitz, der Gulag sollten mitschwingen, wenn er eine heutige Person abbilde. Das geschehe nicht bewußt, seine Hände, die das Papier reißen und kleben, folgten unbewußt den Strömen seines Gehirns, die all diese Erfahrungen des vorigen und nun auch schon die dieses neuen Jahrhunderts aufgenommen hätten mit der Zersplitterung der persönlichen Identitäten.
    Er könne nicht mehr an die ganze Person glauben. Er nennt Fotos bekannter Fotografen: Da seien die Menschen, auch wenn sie in schwierige Situationen geworfen würden, auf bestimmte Weise »ganz«. Sie stünden anders da, als er sie empfinde, nämlich mit zerfledderten Biographien, mit Anforderungen an einen bestimmten Lebensstil, umstellt von Gelegenheiten, die sie nicht verpassen dürften und wollten. Der Prozeß des Machens dieser Collagen sei doch fast gleichnishaft: Das Reißen des Papiers assoziiere das »Nicht-Ganze« einer Person, das Durchscheinen der Papierschnitzel bringe die herbeigesehnte Vielschichtigkeit und »Tiefe« ins Bild, und das Kleben sei ein Zusammenfügen und Verweben.
    Ich werfe ein, für mich hätten die Köpfe etwas Autobiographisches.
    Mag sein, sagt Martin Hoffmann. Er könne sich ja auch nicht als Ganzheit sehen. Etwas Zerrissenes in sich selbst habe ihn gereizt, angestachelt zu diesem Projekt.
    Ich sage, nicht immer seien die Köpfe eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Wahrscheinlich würden verschiedene Betrachter einzelne Köpfe unterschiedlich als »männlich« oder »weiblich« sehen.
    Das möge so sein, sagt Martin Hoffmann. Für ihn spiele das Geschlecht der Figuren keine Rolle, er wisse auch am Anfang nicht, ob am Ende ein »Mann« oder eine »Frau« uns anblicken werde.

    Martin Hoffmann, Kopf Frühjahr 2006 . Collage. 2006
    Ich sage, ich sei besonders angesprochen worden (»angesprochen« sei das richtige Wort) durch einen Kopf, der, während wir
miteinander reden, vor uns steht, den ich »Virginia« genannt habe, ohne etwa eine Portraitähnlichkeit mit Virginia Woolf damit ausdrücken zu wollen. Diese Person habe etwas Zartes, sehr Differenziertes, sehr Bescheid-Wissendes. Sie blicke einen übrigens nicht an wie die meisten anderen, sie blicke vor sich hin, sage ich, das empfände ich als rücksichtsvoll: als habe sie die Schrecken gebändigt, die sie wohl hinter sich hat und von denen ihr ein schmerzvoller Ausdruck geblieben ist. Während ich das zu formulieren suche, empfinde ich stark, daß eine jede Beschreibung dem Bild etwas schuldig bleiben muß, aber das ist ja ein altes Problem der Bildbeschreibung. Wie auch jede Illustration dem Text etwas schuldig bleibt. Die Künste ersetzen einander nicht, sie ergänzen sich im besten Fall. Jedenfalls: Es bleibt mir ein Rätsel, sage ich, wie du mit diesem Material einen Zeittunnel herstellen, das Gefühl der Tiefe erzeugen kannst.
    Das könne man sich nicht vornehmen, sagt Martin Hoffmann. Das passiere einem. Übrigens baue er die Köpfe ja von der Tiefe her auf,

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