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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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verschiedene Versuche gemacht, bis ich endlich den richtigen Ton gefunden hatte. Es hatte lange gedauert, bis ich begriff, daß ich von der dritten auf die erste Person gehen mußte. Da »kam« dann auch der Ton, in dem die Protagonistin sprechen mußte. Und dann, sehr wichtig, kommt ein Bild: Kassandra steht vor dem Tor in Mykenä. Dieses Tor bekam – ich wußte das nicht von Anfang an – eine übergroße, symbolische Bedeutung. Es ist eigentlich das Höllentor, der Eintritt in die andere Welt, in die Gegenwelt. Ohne daß ich es benenne, spielt es auch in Leibhaftig eine wichtige Rolle. In Krisensituationen gehen wir durch ein Tor, durch eine Wand, durch was auch immer, verlassen für eine kurze Zeit, manchmal nur für einen Augenblick, unsere Welt, das, was uns bewußt ist – weil wir mehr auch gar nicht wissen wollen –, und kommen in eine andere Welt, die wir dann auch wieder ganz schnell vergessen.
    BZ :  Sie versuchen immer wieder, diese Schwelle zu überschreiten und zu protokollieren, was da drüben passiert.
    Wolf:  Ich kann den Zutritt in die Gegenwelt nicht herbeiwünschen. Ich will es auch gar nicht. Er ist Resultat schwerer Krankheiten, schwerer Konflikte, die ich ganz sicher nicht herbeisehne. Aber wenn es denn passiert, dann sind das die Augenblicke, in denen ich am intensivsten das Gefühl habe zu leben. In der Zeit kann ich nicht schreiben. Aber sofort danach. Ich muß den Moment abpassen, da ich so weit aus der Krise bin, um wieder schreiben zu können, und ihr doch noch so nahe, um sie noch in den Knochen zu haben. Bei Leibhaftig zum Beispiel habe ich mir schon während der Krankheit Notizen gemacht. Die medizintechnischen Details der Entwicklung der Krankheit, der Behandlung hätte ich sonst vergessen. Eine Er
zählung konnte ich aus diesen Notizen und aus meiner Erinnerung erst sehr viel später machen. Als ich die Krankheit durchlebte, spürte ich, daß ich in einem Zustand war, den ich – sollte ich überhaupt überleben – niemals wieder erleben würde. Das Einmalige, das Unwiederholbare meiner Situation war mir bewußt. Es war eine Situation, die hoch gefährlich war, aber mir auch etwas Neues offenbarte. Man kann sich so etwas nicht wünschen, aber wenn es geschieht und man kommt wieder heraus, kann sich Kreativität daraus entwickeln.
    BZ :  Das nennt man Glück.
    Wolf:  Ja, ja. Dann hat man Glück gehabt. Wenn man das durchgestanden hat. Es muß aber so sein, daß man, solange man mittendrin ist, wirklich mit dem Tode rechnen muß. Es darf kein Sicherheitsnetz mehr da sein, nichts, worauf man sich verlassen kann. Sonst durchschreitet man das Tor nicht. Man muß ganz ausgeliefert sein.
    BZ :  Sie haben eben ein Lächeln zurückgehalten.
    Wolf:  Ja. Das klingt so pathetisch. Ich sage so etwas nicht so gerne. Aber aus solcher Grenzerfahrung speist sich doch Literatur. Wir alle werden überschwemmt von Gegenständen, von Dingen. Die Tendenz, uns zu verdinglichen, wird immer stärker, jetzt auch durch die sogenannte virtuelle Wirklichkeit. Dagegen geht Literatur an. Sie bietet Identifikation an mit einer Person, in ihren persönlichsten, oft auch schutzlosesten Momenten. Das kann man nicht steuern. Man könnte es vielleicht zurückhalten. Aber warum? Wenn man schreibt, ist es doch genau das, wonach man sich als Autor sehnt. Wenn man sich diesen Punkten nähert – das sind die Glücksmomente. Die Leser merken das. Es gibt ein Bedürfnis danach. Die Zahl der Menschen, die das brauchen, wird auch nicht geringer.
    BZ :  Andere Autoren entwerfen mit großem Erfolg das Programm einer Literatur ohne Schmerz, ohne Leid, Leben und Literatur als Party. Der berühmte neue deutsche Literaturstreit war eine politische Diskussion, aber es ging auch darum, Ihre literarische Position, Ihren Anspruch, zu unterminieren.
    Wolf:  Der Angriff auf einige DDR -Autoren war damals, während der »Wende«, auch ein Angriff auf die DDR ganz allgemein. Mir wurde das erst später klar. Es prallten damals nicht nur zwei politische Systeme, sondern auch zwei Welthaltungen aufeinander. Jeder will Schmerz und Leid vermeiden. Auch die DDR -Bürger waren nicht etwa schmerzsüchtig. Aber sie waren in einer Erfahrung geschult, mit Situationen konfrontiert, in denen sie sich bewähren mußten, in denen man zeigen mußte, wer man war. Man konnte versagen. Man konnte scheitern. Die Westdeutschen, jedenfalls die jener Altersgruppe, die damals dominant wurde, hatten diese Erfahrung nicht gemacht. Auch wenn sie

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