Redwall 01 - Der Sturm auf die Abtei
gezogen. Edmund bemerkte nicht, wie die langen, scharfen Krallen über den Rand der Brustwehr griffen und sich verankerten. Wenige Sekunden später erschien der glatte schwarze Kopf; zwei funkelnde Diamantenaugen starrten den schlafenden Mäuserich an. Es war dem Schatten gelungen, die Abteimauer zu erklimmen.
Wie eine geschmeidige schwarze Eidechse glitt er vorbei an Schlafenden und an Steinhaufen, ohne dabei auch nur das leiseste Geräusch zu machen. Pater Hugo murmelte etwas im Schlaf und bewegte seinen Kopf, sodass seine Kapuze herunterrutschte. Der Nieselregen fiel dem fetten Mönch ins Gesicht und drohte ihn aufzuwecken. So sanft wie ein Nachtlüftchen zog Schatten die Kapuze wieder hoch. Er wartete einen Augenblick, dann sah Schatten sich um und folgte schließlich den Steinstufen, die von der Brustwehr zum Kreuzgang hinunterführten. Im Schutze von Sträuchern und Büschen schlich er heimlich voran, ohne auch nur das geringste Risiko einzugehen oder eine einzige unbedachte Bewegung zu machen. Manchmal hielt er inne, wartete und ließ einige Zeit verstreichen, während er seine nächste Bewegung plante und dann voranglitt wie der Schatten einer Wolke, den der Mondschein auf dem Boden hinterließ.
Die Tür zum Großen Saal war nicht verschlossen. Schatten vermutete, dass der Riegel wahrscheinlich alt war und quietschen würde. Er nahm das Fläschchen heraus und ölte den Riegel und die Scharniere. Vorsichtig machte er die Tür einen Spalt weit auf – sie quietschte ganz leicht, ließ sich aber ohne Anstrengung öffnen. Er schlüpfte hinein und ließ dann versehentlich die Tür los. Es wehte eine leichte Nachtbrise und so fiel sie mit einem dumpfen Schlag wieder ins Schloss.
Schatten fluchte innerlich und warf sich hinter die nächste Säule. Reglos lag er da, er wagte kaum zu atmen; eine, zwei, drei Minuten, gut! Niemand war von dem Geräusch aufgewacht. Er wagte sich hervor, um sich den Wandteppich genauer anzusehen.
Nicht einmal eine schwarze Motte in mondloser Nacht wäre Schattens Aufmerksamkeit entgangen. Er brauchte kein Licht, um zu erkennen, was da vor ihm hing. Das war also das Bild des Mäusekriegers, auf das Cluny es abgesehen hatte. Seine rasiermesserscharfen Fänge schlugen sich in den uralten Wandteppich, als er sich von dem quastenverzierten Saum nach oben arbeitete.
Matthias warf sich in seinem Bett von einer Seite auf die andere; er war erschöpft, konnte aber nicht schlafen. Eine Unmenge von Problemen und Plänen schossen ihm durch den Kopf: das Schwert, Martins Grab, die Verteidigung der Abtei, Kornblume. Nachdem er sich lange Zeit hin und her gewälzt und die Laken schon ganz zerwühlt hatte, übermannte ihn schließlich der Schlaf. Er befand sich in einem langen, leeren Raum, der Ähnlichkeit mit dem Großen Saal hatte. Eine Stimme rief ihn: »Matthias!«
»Ach, geh weg«, murmelte der junge Mäuserich verschlafen. »Such dir jemand anderen. Ich bin müde.«
Aber die Stimme fuhr fort und bohrte sich in seine Gedanken. »Matthias, Matthias, ich brauche dich.«
Er spähte den dunklen Saal hinunter. »Was ist denn, warum brauchst du mich?«
Matthias ging auf die Stimme zu. Er konnte ein boshaftes Kichern hören, dem ein verzweifelter Schrei folgte. »Matthias, Hilfe! Lass nicht zu, dass sie mich mitnehmen!«
Er rannte los. Der Saal schien immer länger zu werden.
»Wer bist du, wo bist du?«
Weit vorne in der trüben Dunkelheit konnte Matthias verschwommen erkennen, wie eine Gestalt sich von der Wand nach vorne lehnte. Es war ein Mäuserich, der eine Rüstung trug.
»Bitte, Matthias, du musst mir helfen – schnell!«
Plumps.
Matthias landete auf dem Fußboden seiner Schlafkammer. Die Bettdecke hatte sich um seinen Körper gewickelt. Langsam setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Was für ein merkwürdiger Traum: der lange Saal, die flehentliche Bitte um Hilfe, der Mäuserich mit der Rüstung …
Matthias spürte, wie sich sein Nackenfell sträubte.
Natürlich, das musste es sein!
Der Große Saal; Martin der Krieger; irgendetwas Schreckliches ging da unten vor sich. Er wurde dringend gebraucht.
Matthias warf die Laken von sich, sprang auf und raste zur Tür seiner Kammer hinaus, den Gang des Schlaftraktes hinunter und Hals über Kopf die Wendeltreppe hinab. Er eilte durch die Wohnhöhle, stolperte in der Dunkelheit, fiel über Möbelstücke. Er spürte, wie sein Herz ihm bis zum Halse schlug und seine Beine vor Anstrengung zitterten. Matthias stolperte über
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