Regeln des lächerlichen Benehmens (German Edition)
zehnjährigen Koma geweckt, indem er ihr in eine Zehe gebissen hat.“
„Das würdest du für keine machen.“
„Solche gab es genug – Táňa Laboutková, Marie Bundová, Iveta Švihlíková, Jarka Semencová, dann entweder Khalida oder Shahida Yusuf, die mit den größeren Augen, das war in der Grundschule. Mit Beginn des Gymnasiums haben Namen für mich langsam an Bedeutung verloren. Lange bevor ich meine Unschuld verloren hab.“
„Meine hab ich, ch-ch, mit meiner eigenen Tante verloren.“
„Ich erst bei der Armee.“
„Lüg nicht, du bist doch schon in der ersten Gymnasium mit dieser Hafina gegangen.“
„Woher weißt du das?“
„Ihr habt mich zum Abendessen ins
U Rarášků
in der Mikulandská eingeladen. Mich hat an der beunruhigt, dass die in so jungen Jahren schon trinken konnte.“
„Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagt der Kasper, während er mit abgehackten Schritten auf und ab geht. „Dass wir zusammen Abend essen gewesen wären.“
„Das waren wir, mindestens sechs Mal. Hör mal, nächsten Sonnabend muss ich wieder in die Thomayer-Klinik.“
„Wieder mit den Beinen?“
„Das erfahr ich erst dort. Könntest du mir mit der Tasche dahin helfen?“
„Wie viel Uhr?“
„Um acht.“
„Acht Uhr früh?“
„Ich hab dich nie um was gebeten, ch-ch, bis jetzt.“
„Ich sag ja gar nichts, am Sonnabend um acht.“
„Hm. Schreib’s dir am besten irgendwohin.“
20 ICH LIEGE AUF DEM TEPPICH, LAUSCHE UND KOMME LANGSAM DRAUF, WER MEIN VATER GEWESEN IST. Ein kleiner Prinz mit Tüllkragen, weiße Strümpfe in Lackschuhen. Ein in sich gekehrtes Einzelkind mit unsicherem, aber ausdauerndem Lächeln. Ein verzaubernder großnasiger Bursche mit einem riesigen Barett und einem Akkordeon inmitten lachender Studentinnen. Ein Grimassen schneidender Gast bei Abschlussfeiern und Hochzeiten. Ein Mikrobiologe im weißen Kittel. Auf den Fotos aus dem Labor grinsen Immunologinnen mit schlecht sanierten Zähnen, während er mit demonstrativ hochgezogenen Augenbrauen irgendwas aus einem Becherglas trinkt. Mein Vater ist offenbar mal ein lustiger Mensch gewesen. Ein Entertainer, ein lichtes Naturell. Und ich habe das nicht mit bekommen. Ich kannte erst diesen misstrauischen, sardonischen Alten.
„Hm, störe ich dich?“, sagt er.
„Wieso solltest du?“
„Ich hab hier Radieschen – heute Mittag hab ich die gekauft, jetzt ist es viertel fünf, und die sind total verschrumpelt. Wie können Radieschen so schnell einschrumpeln? Na, wie schon“, antwortet er sich selbst, „ist ja überwiegend Wasser.“
„Hast du die zum Mittag gegessen?“
„Ich hab gesagt, sie sind eingeschrumpelt, nicht aufgegessen. Zum Mittagessen gab’s bei mir Erbspüree und Würstchen, das Würstchen hat gestunken.“
„Dann hast du’s weggeschmissen.“
„Gegessen hab ich’s, ich kann mir das nicht leisten. Ich geb von meiner Rente was an Ivana ab, die ist arbeitslos, die haben sie schon wieder wegen den Dialysen rausgeschmissen.“
„Bei meinen Geschäften tut sich auch gerade nichts, ansonsten hätte ich natürlich …“
„Du kauf den Wein und komm her, das würde völlig reichen. Was für einen kaufst du denn?“
„Spanischen Rioja.“
„Du hast gesagt, du trinkst nicht.“
„Was soll man denn mit Besuchern sonst machen?“
„Ich wollte dir sagen, dass ich mich schon wieder mit Ivana gestritten hab.“
„Sie hat mich angerufen.“
„Was hat sie gesagt?“
„Dass ihr euch gestritten habt.“
Im Hintergrund der Aufnahme wummert der Fernseher.
„Die führen schon wieder Krieg.“
„Wer?“
„Die Juden. Juden können mit dir über nichts anderes reden als über Juden, und die hören nicht auf, bis sie einen Juden oder einen Antisemiten aus dir gemacht haben, hat mein Cousin Arno immer gesagt.“
„Dabei hat der doch selbst bei der Hagana mitgemacht und ist im Sechstagekrieg draufgegangen, oder?“
„Genau deshalb hat er wahrscheinlich gewusst, wovon er redet. Moment mal bitte, bei mir hat’s geklingelt.“
Knistern, ein langes Knistern.
Ich biege meine Wirbelsäule auf dem Teppich gerade und gieße mir moldawischen Cognac nach. Der Kommentator im Fernseher meines Vaters tadelt die Extremisten dafür, dass sie jemandem einen Brandsatz in die Wohnung geschmissen haben. Die Familie kämpft mit Verbrennungen ums Überleben. Des Weiteren referiert er über eine Sonde, die auf eine Begegnung mit dem Kometen Tschurjumow-Gerasimenko im Jahr 2014 zusteuert. Der Grund, warum
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