Regeln des lächerlichen Benehmens (German Edition)

aus ihnen ein vereinfachtes Bild. Phänomene haben keinen Inhalt, nur eine Frequenz. Das Gehirn ist ein hundsordinäres Head-up-Display.
    „Unglaublich violetter Himmel über uns“, sagt Rulpo.
    „Ich seh’s“, sagt Murgy, „perfekt, der ist bloß nicht violett, sondern grün.“
    „Ach komm, der ist doch rosa“, wende ich ein.
    19 WIR SIND MITTEN IM SEE. Über Moosinseln schreitet quer zu unserer Fahrtrichtung ein weißer Storch. Wir geben ihm Vorfahrt. Er blinzelt uns mit einem Auge zu und schreitet ruhig seines Weges.
    20 SO MUSS DAS SEIN, SAGE ICH MIR. In Bewegung sein. Auf der Suche danach, wo es weitergeht. Man muss sich eine Aufgabe stellen, die Aufgabe erfüllen und sich die nächste stellen. Sich nicht abmühen, dem Ganzen einen Rahmen, eine Form, eine Geschichte aufzuzwingen. Geschichten sind Fiktion, die einen Zuhörer, einen Zuschauer antizipieren, kurz gesagt, eine Lüge. Steck die Kathode in den Behälter mit der Aufschrift
HASSE ICH
, die Anode in
LIEBE ICH
, pfropfe einen Anfang und ein Ende auf und serviere das Ganze. Geschichten sind keine Überraschung. Die Überraschung ist, dass Geschichten im normalen Leben sozusagen nicht geschehen.
    Ich kriege eine SMS:
Wirst du die Stereotypie in deinem Denken jemals überwinden?
    Unbedingt
, antworte ich.
    21 DIE LUFT WIRD VON EINEM LAUTEN BRUMMEN DURCHSCHNITTEN. Auf den Boden des Kanus fällt eine Libelle im festen Griff einer Hornisse. Die fängt unverzüglich an, ihr Opfer mit ihren Beißwerkzeugen zu portionieren – zwickt die Flügel ab, die Beine, den Kopf, mit dem Rest fliegt sie davon.
    22 ICH ZERRE AN DEN RUDERN. Überwinden, nicht überwinden, was weiß ich. Frage, Antwort. Ausatmen, einatmen. In jeder lebendigen Zelle spielt sich von Anfang bis Ende das wütende Aufbegehren gegen einen Sinnverlust ab. Alles Lebendige verlangt nach einer Erklärung, einer Pointe. Und was ist eine Pointe? Die Grundlage für Stereotype. Wozu also damit brechen?
    23 ÜBER DIE SEEROSEN HOPPELT FLINK EINE GROSSE SPINNE. Auf ihrem Rücken reitet eine kleine Wespe. Kaum kriecht das Langbein ans Ufer, steigt die Wespe ab, sticht zu, die Spinne zuckt komplett zusammen und krepiert. Die Wespe zerrt sie mit aller Kraft weg. Höchstwahrscheinlich wird sie Eier in ihr ablegen.
    „Krass, Alter“, kommentieren die Jungs das.
    „Voll die Härte.“
    „Der Hammer.“
    24 RULPO RAUCHT, HOLT MIT EINEM STÖCKCHEN FLIEGEN AUS DEM TEE UND ERZÄHLT VON SEINEM ONKEL. Der ist 1981 mit einem geklauten Laster über die Grenze gerauscht, hat den Schlagbaum durchbrochen, die Grenzer haben gefeuert, 69 Geschosse haben die Kabine durchschlagen, davon 22 den Onkel. Der ist in dem Zustand noch ein paar Kilometer weiter gefahren, bis ihn in Regensburg ein Haufen Operationen erwartete, ein Jahr im Gipsbett und zwei Jahre im Rollstuhl. Als er nach der Wende zurückgekommen ist, hat er rausgefunden, dass unter den Schützen auch sein Bruder gewesen ist, der Vater von Rulpo, der zu der Zeit gerade seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen abgerissen hat.
    Murgy will wissen, ob der Onkel ihm das verziehen hat.
    „So halb“, sagt Rulpo, „er hat damit gerechnet, dass nicht geschossen wird, wenn mein Vater dort ist.“
    „Vielleicht hat’s dein Vater bloß nicht hingekriegt, das Schießen zu verhindern“, meint Murgy.
    „Der hätte das hingekriegt, die hatten das genau geplant, er hat bloß das Datum verwechselt. Er hat gedacht, dass mein Onkel erst eine Woche später kommt.“
    25 AM HIMMEL ENTLANG ZIEHT EIN GANZER VOGELATLAS. Über unseren Köpfen kreisen Pelikan-Fliegerstaffeln. Gegen die Sonne sieht man, wie einer in seinem gut durchbluteten Kehlsack einen nicht verschluckten Fisch hat.
    Viel weiter oben zeichnen zwei schräg aneinander vorbeifliegende Flugzeuge ein strahlend weißes Kreuz. Doppelte Kondensstreifen schießen dicht nebeneinander unter dem Schwanz hervor, sprich, es sind keine Verkehrsflugzeuge. Ein Stück von hier ist die Ukraine, also sind das Su-24 oder ähnlicher Schrott.
    26 AB UND ZU STOSSEN WIR AUF FISCHER IN FRAGILEN SCHWARZEN GONDELN. Weil wir arg zugerichtet, eingesaut und überhaupt verloren sind, verhalten sie sich uns gegenüber freundlich. Ihre vorzeitig zerknitterten Gesichter zeugen davon, auf wie viele Arten das Schicksal ein armes Schwein beuteln kann. Davon wie es ist, das ganze Jahr über inmitten des größten Schilfbestands Europas zu leben. Sie fragen nichts, kramen ihre Flasche Ţuică raus, selbstgebrannten Pflaumenschnaps, wir heben einen mit