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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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Aber sie weiß sich diese Feigheit sogleich zu erklären, und ihr scheint im selben Moment, sie hätte soeben eine andere Grenze überschritten: sie fühlt sich als Zeugin und nicht als Mitwirkende; das ist ein Film, der für sie gedreht wird, ein Film, den sie anschaut, so wie man in Träumen Filme anschaut, in denen man eine unklare, aber bedeutsame Rolle spielt, es ist die Wirklichkeit: aber so sehr Wirklichkeit, dass sie geträumten Filmen gleicht und dass sie selbst gelähmt ist, in ihr ein pulsierender Kern von Kälte, und nichts als Zeugin sein kann; zugleich aber spürt sie, dass ihre Rolle sich in jedem Moment ändern kann, dass sie plötzlich Dinge tun kann, von denen sie niemals gedacht hätte, sie könnte sie tun, dass sie plötzlich handeln kann wie ein anderer Mensch, als ein anderer Mensch, in einer neuen Stadt, einem neuen Universum. Es hängt nicht im geringsten von ihr selbst ab, was sie tut. Sie existiert außerhalb von sich selbst, irgendwo in der wirklichen Welt, die ein geträumter Film ist. Einige Minuten vergehen, dann siehst du Fahnen aus einem Fenster im ersten Stock hängen und hörst Jubelschreie, dir fallen Gesichter im Fenster auf, die du schon an der Uni und bei ein paar anderen Demos gesehen hast, jemand schwenkt vom kleinen Balkon im zweiten Stockwerk (nein, dem ersten, darunter heißt es sicher Mezzanin) eine Fahne der kommunistischen Partei, und sie tritt schon wieder einen Schritt zurück und lässt das Denken, das Grübeln, die Vorbehalte in Lauf kommen. Sie hofft, dass niemand diese Szene fotografiert oder filmt, das könnte euch erledigen, alles zunichte machen, wenn es die andere Wirklichkeit, die Zeitungen, das Fernsehen noch gibt (und es wird diese Medien wieder geben, so wie es auch dein Denken, dein Grübeln, deine Vorbehalte wieder gibt und immer wieder geben wird, es wird die Regierung geben, so wie es wieder eine Mehrheit geben wird, die, gleich, was die Regierung tut oder nicht tut, sie akzeptieren wird und die euch, gleich, was ihr tut oder nicht tut, hassen wird). Zugleich möchtest du (aber wahrscheinlich überschätzt du diese Leute, die allen Ernstes eine Parteifahne mit sich herumtragen) die Geste verstehen und als ein Zeichen einer anderen Zeit sehen, eine Referenz an eine andere Zeit, als solche Symbole noch brauchbar waren und auf eine Zukunft verwiesen, die es niemals gegeben hat und niemals geben wird; auf einen totalen Umsturz der Verhältnisse; eine Art von Zeichengebrauch, die nur noch selbstironisch möglich ist, weil man nicht mehr Kommunist sein kann (ohne Idiot zu sein), sondern höchstens noch »Kommunist«, in der Erinnerung und der Distanz von jeder Zukunft (so würdest du es in einer deiner bewunderten, einer deiner, wie du zu ahnen beginnst, völlig sinnlosen Seminararbeiten formulieren). Du kennst dich mit Selbstironie aus; wie mit kaum etwas anderem; Selbstironie, denkst du, ist eine Stärke, jedenfalls wäre sie es, gäbe es Menschen, die etwas damit anfangen können. Sobald sie auf die Wirklichkeit und die wirkliche Macht trifft, wird sie zur Schwäche und kann sich in Selbstzerstörung verwandeln. Jetzt jedenfalls ist es völlig gleichgültig, was die Leute mit der Fahne der Kommunistischen Partei gewollt oder nicht gewollt haben: Nichts geschieht, die Szene geht einfach vorüber. Keiner hat sie festgehalten, keiner wird sich daran erinnern. Nach kaum einer Viertelstunde (oder waren es nur fünf Minuten, oder war es doch eine Stunde, in der an immer neuen Fenstern die immer gleichen Gesichter und Fahnen auftauchten, als ginge es um eine Suche, eine Schnitzeljagd; oder um eine möglichst vollständige ephemere Besetzung) geht ihr einfach weiter, an der Polizeistation vorbei, dem großen Eingangstor, das niemand von den Demonstranten beachtet, ihr schwenkt bei der Urania zum Kai ein, verteilt euch auf der Straße: jetzt schlüpfst du in deine andere Gestalt; jetzt bist du ganz drin in diesem Tag (und du wirst immer in diesen Tag zurückkehren können, er wird immer auf dich warten, es gibt solche Tage). Fast als würde es der Ort mit sich bringen, die größere Weite hier am Donaukanal, der Blick, der bis zum Leopoldsberg frei ist, den Windungen des Flusses entlang, scheint nun der Kern von Kälte zu schmelzen, du kannst dich wirklich bewegen, andere können wirklich auf deine Gesten, deine Sätze, deine Bewegungen antworten, du kannst wirklich klatschen, schreien, singen, durch die Stadt ta nzen (fliegen). Ihr haltet die Autos auf und fordert

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