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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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arbeitete, könnte er zu reden aufhören und es würde eine Symmetrie entstehen, eine Art von Frieden. Aber er konnte jetzt meist nur noch zu seinem Vergnügen an den Computer gehen, und das Vergnügen war ihm lästig, seit es nicht mehr, wie früher, mit Arbeit verschwamm, kaum von Arbeit unterscheidbar war. Alles, was er im Netz erfahren konnte, war zufällig und würde nie einer der Ordnungen angehören, aus denen seine Wirklichkeit bestanden hatte. Scheint es dir nicht auch, sagte er, in immer gleichen Sätzen hängen bleibend, dass deine Erinnerungen nicht in deinem Kopf sind, sondern draußen in der Welt, an einem Ort, den du nicht erreichen kannst … vielleicht erfinden? Er lachte ein wenig meckernd.
    – Mach’s gut, Walter, sagt Pre leise zu ihm, als er schlafen geht, aber sie sagt es wirklich sehr leise, er hört es wahrscheinlich gar nicht.
    Du weißt nicht, mit wem du unterwegs bist, ihr zieht am Burggarten vorbei, an der Oper, gegen die Fahrtrichtung, ein paar hundert Leute mit den verschiedensten Transparenten und Fahnen, es gibt keine Route und keine Organisation, die ganze Stadt ist euer Gelände, ihr könntet die ganze Stadt besetzen. Noch fährt ein Polizeiwagen an der Spitze des Zugs, noch fährt ein Polizeiwagen hinter euch her, du könntest langsamer werden, aus der Menge zurückfallen, du könntest an die Spitze vorlaufen; du könntest in die Hände klatschen, schreien, singen; du könntest in eine Seitengasse ausbrechen, zur Passantin werden, gleich wieder zurückkehren in den Demonstrationszug: die Bedeutung aufgeben, sie wiedergewinnen. Du kannst dir aussuchen, wer du bist, nichts hält dich. Du hast keine Vergangenheit und keine Zukunft. Keine Fernsehkameras und keine Journalisten begleiten euch, für einen Moment denkt sie, es gibt diese Medien nicht mehr, es gibt keine Regierung, die paar Polizisten wissen es nur noch nicht; warum verlässt sie nicht ihren Platz in der Demo, klatscht nicht in die Hände, beginnt nicht zu schreien, singen, tanzen (fliegen); fühlt sich schwer und überflüssig und ihren Zorn als eine dumpfe in ihrem Körper verteilte Last. Ein paar Touristen, die vom Johann-Strauß-Denkmal kommen, starren euch von der Allee vor dem Stadtpark her an, ja, du willst, dass sie euch sehen, ihr sollt sichtbar sein, ein Zeichen, du willst nur noch ein Zeichen sein. Wie oft ist sie mit dem Rad hier entlanggefahren, auf dem Weg zur Uni, ins Kino, in ein Café oder ein Lokal oder, in Richtung Urania, nach Hause, mit irgendeinem Typen, viel zu selten, mit einer Freundin (hat sie denn Freundinnen, hat sie jemals Freundinnen gehabt, Freunde, jemanden, dem sie vertraut und von dem sie nicht ahnt, dass er oder sie sich hinter ihrem Rücken gleich über sie lustig machen wird, gibt es so jemanden in dieser Stadt?), manchmal mit Mona, meist allein, und fühlte sich, frei dahinfahrend, nach Monaten, Jahren, in dieser Stadt angekommen, studierte nicht bloß zufällig irgendetwas, sondern war eine Studentin, ein Wesen, das Studentin war und ein Studentinnenleben führte; jetzt haben sich die Orte verwandelt. Vor dem riesigen Bau des Sozialministeriums (des Kaiserlich-Königlichen Kriegsministeriums, dessen Fassade Soldatenköpfe zieren, seltsam realistisch und eben deshalb grotesk und deplaziert: geschwungene Schnurrbärte, Koteletten, Mützen, Hüte, Barette, Helme, Kokarden, den verschiedenen Völkern des Imperiums entsprechend) kommt ihr zum Halten. Sprechchöre formen sich, ein paar Beamte schauen teilnahmslos aus den Fenstern der oberen Stockwerke, darüber, böse zur Straße hinunterschauend, der doppelköpfige Adler mit den meterlangen Bronzeschwingen. Du siehst keine Polizisten mehr, vielleicht sind die einen mit der Spitze des Zugs weitergezogen, die anderen mit dem Ende des Zugs irgendwo zurückgeblieben, auch die Glastür der Wachstube im Souterrain, an der du nachts oft hastig ohne Licht vorbeigeradelt bist, ist geschlossen, das schwarz vergitterte Eingangstor dagegen steht offen, vielleicht war es die ganze Zeit geöffnet, vielleicht hat es eben erst jemand aufgemacht, dir fällt es erst auf, als ein Grüppchen von Demonstranten ins Gebäude eindringt, auf eine ganz selbstverständliche Art und Weise, als hätten sie das längst vorgehabt oder würden immer wieder einmal ein öffentliches Gebäude besetzen, sie überlegt, ob sie mitgehen soll, aber eine Lähmung ergreift sie – oder ist es eine Feigheit und ein Gefühl für Grenzen, die nicht mutwillig zu überschreiten sind?

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