Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
würde, einmal taucht sie in dem einen, einmal dem anderen Grüppchen unter, auf der ganzen Ringstraße sind kleine Demonstrationszellen verteilt, die sie bereitwillig aufnehmen, ohne von ihr eine bestimmte Zugehörigkeit zu verlangen. Sie sieht ihre Freunde wieder und schaut an ihnen vorbei, sie kann Fremde anschauen so wie ihresgleichen, das ist ihr mehr wert. Sie gehört nicht zu ihren Freunden, sie gehört zu den Fremden. Ich will nichts mehr für mich , heißt es in dem Gedicht, das sie Mona vor drei oder vier Jahren vorgelesen hat: bin ich’s, so ist’s ein jeder, der ist so viel wie ich . Monas Blick; Mona, die einzelne Wörter wiederholt. Du kannst das Gedicht in einzelne Wörter zerhacken und jedes Wort einem Schritt zuordnen. Dann und wann sind auch Polizisten zu sehen, zu zweit oder in Gruppen, manche martialisch aufgemacht, wie die Polizisten mittags bei der großen Demo, manche in normaler Uniform, aber die Pistolen in den Gürteln fallen ihr heute besonders auf, so als wären sie zum ersten Mal wirkliche Waffen; Waffen, die auf sie gerichtet werden, sie treffen könnten. Zum ersten Mal lebst du in der wirklichen Welt und nimmst wirkliche Waffen wahr. Für Momente, irgendwo in einem kleinen Gässchen der Innenstadt oder auf der Kärntnerstraße, auf die sie sich verirrt hätte, muss sie auch ganz allein geblieben sein, plötzlich waren die Leute rundum bloß Passanten, Konsumenten, Touristen; sie mussten ihr kurios erscheinen, wie aus einer anderen Zeit, wie sie sich selbst plötzlich kurios, aus der Zeit gefallen, erscheinen musste. Sie kommt nicht auf die Idee, sich etwas zu essen oder zu trinken zu besorgen; ihre Füße in den Turnschuhen stinken, ihr Rücken und ihre Beine tun weh: ein paar Stunden füllen allein die sinnlose Bewegung, der sinnlose Schmerz, Schleifen, die sie durch die Innenstadt, durch ihren eigenen dunklen Kopf, durch den Schmerz zieht; daraus taucht sie auf wie aus einem Nichts, aus einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in einem Moment, an dem später die Erinnerung wieder einsetzt und ganz klar wird; so als könnte sie hoffen, dieser Moment würde sich unablässig wiederholen.
Es gibt solche Tage: in Räume zerschnitten, von denen manche wie mit einer Kamera festgehalten scheinen (und auf welcher Seite der Kamera bist du? Kannst du wirklich immer wieder hineinschlüpfen in den Raum, in den Tag?), manche im Vergessen verschwinden (und es ist nicht sicher, was dir entgeht; was von deiner Vergangenheit dir immer fehlen wird).
Woher auch immer sie eben kommt und was auch immer fünf Minuten zuvor gewesen sein mag, sie befindet sich nun am Schottenring, in einer schon von Beginn an größeren Gruppe von Demonstranten, die sie auf beinah tausend Menschen schätzen würde; es ist schon dunkel; sie kommt auf die Idee stehen zu bleiben, als die Spitze des Zugs in den neunten Bezirk umbiegt. Dann kippt die Szenerie. Der Demonstrationszug scheint kein Ende zu nehmen, sie schaut ungläubig auf die aus allen Richtungen herströmenden Menschen. Es scheint, dass ihre Demonstration mit einer kleineren, die vom Kai her kommt, zusammenfließt, zugleich schließen sich spontan immer mehr Leute dem Zug an, der Strom scheint noch die zufälligen Passanten aufzunehmen, jeder, der sie die Ringstraße entlangziehen sieht, macht einfach das Selbstverständliche und geht mit. Minutenlang steht sie da und sieht die Menschenmenge immer weiter anwachsen; dann, mit einem ganz neuen Glücksgefühl im Bauch, läuft sie weiter, spürt ihren Rücken, ihre Beine nicht mehr, ihre Füße sind nicht mehr angeschwollen und hören auf zu schwitzen. Die Luft ist klar geworden. Die aus den Fenstern winkenden Leute werden immer mehr, in der Liechtensteinstraße (oder ist es die Porzellangasse) ziehen sie an einem jugoslawischen Lokal vorbei, die Gäste und die Kellner kommen an die Tür und klatschen ihnen zu. Sie hat keine Ahnung, wohin sie gehen, und es ist auch vollkommen egal; der Zug hat keinen Anfang und kein Ende. Einen Moment lang glaubt sie an die Möglichkeit des Umsturzes und der vollkommenen Freiheit: Was für eine Schande, denkt sie, in einer Wohnung zu wohnen, ein paar Zimmern, zwei oder fünf, egal: immer die gleichen Wege zu gehen. Was für eine Schande, durch Fenster auf die Straße, in die Welt zu schauen, statt die ganze Welt in Besitz zu nehmen. Statt sich die Welt zu nehmen. Was für eine Schande, wie sie immer gelebt hat, in Häusern, mit ihrem eigenen Zeug um sich herum; alles kann ihr, kann
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