Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
er vergaß die Einkaufsliste, die es möglicherweise auch gar nicht gab.
Von der Rossauer Lände aus konnte er zurückschauen, zum Himmel hin, warten, dass dunkle Wolken zu Gebirgen würden, hoch aufragenden von dichten Wäldern bedeckten Wänden, um die sich versteckte Pfade schlangen, er sah diese Berge, vom Eingang der U-Bahnstation aus, diese Wälder, hinter den Häusern und den Wolkenstreifen. Spittelau: U4, U6.
Diesmal wusste er, an welcher Station er aus der U-Bahn aussteigen würde, er hatte sich ein billig aufgemachtes Einkaufszentrum in der Nähe des Gürtels ausgesucht, in dem es alle möglichen Supermärkte, Drogerie- und Elektronikläden gab, dort in der fremden Stadtgegend war er sich sicher, ein Niemand zu sein. Seine Hände in den Jackentaschen schlossen sich um die Filmdosen, als fänden sie an ihnen Halt (glaubst du denn an Bilder? Wenigstens solang du sie nicht sehen kannst?). Ein großes Café am Gürtel, mit langen (er dachte: staubigen, verrauchten) Vorhängen an den Fenstern, sah aus wie die Wirtshäuser in seiner Kindheit, vor dem Eingang zum Einkaufszentrum saß eine Reihe von Leuten, vor allem jungen Mädchen, zigarettenrauchend auf den Simsen zu den Schaufenstern, die nackten Knie stachen in die Höhe, sie redeten miteinander, lachten. Seine Beine schienen ihm schlaksig und weich, er schlich durch die weiten Gänge, als würde er in einem Rollstuhl vorangeschoben, über einen Boden aus kotzefarbenem falschem Marmor. Securityleute mit weißen Hemden, schwarzen Krawatten und ärmellosen Westen standen am Fuß einer Rolltreppe breitbeinig da, ein magersüchtiges Mädchen in einem Businesskostüm unterhielt sich mit ihnen. Er fuhr die Rolltreppe hoch, dort sah er den Drogeriemarkt, ging knapp hinter einem afrikanischen Paar mit Kinderwagen durch die Sicherheitssperre und schaute sich nach der Fotoecke um. Die Gänge hier waren eng, der Boden unter seinen Füßen himmelblau; als er die Regalreihen in dem schlauchförmigen Raum zum zweiten Mal beinah umkreist hatte, fielen ihm die zwei Automaten für die Fotobestellung an der Wand auf, daneben, ja, befand sich auch noch ein Einwurfkästchen, ein kleiner Stoß von Filmtaschen, du ziehst eine heraus, da steht auch etwas von Kleinbildfilm, also mussten es Kleinbildfilme sein, die er in der Tasche hatte. Er stellte ab, was er, zu seiner Rechtfertigung (du brauchst eine Rechtfertigung) bei seinen Erkundungsrunden aus den Regalen gefischt hatte: zuerst eine Tube seiner Spezialzahnpasta, dann, um zu zeigen (wem zu zeigen), dass er nicht bloß ein wirrer alter Sonderling war, sondern mit einer Frau zusammenlebte, noch Abschminkpads und eine Puderdose; alltägliches Zeug, keine Geschenke, Liebster, du hast Zeit, kannst du mir mal eben dies und das mitnehmen, womöglich stand dies und das auf einer Liste, alles war völlig glaubhaft und konnte niemanden interessieren. Er kam sich vor wie ein Teenager beim Kauf von Kondomen (dabei stellte er bloß sein wirkliches Leben nach, ist das denn so schlimm?). Er nahm den an einem Kettchen angebrachten Kugelschreiber und machte sich daran, das Formular auf der Filmtasche auszufüllen. Kundennummer. FD-Nummer. Auftragsnummer: das stand alles fest. 10x15, glänzend, kreuzte er an, dann musste er einen Namen und eine Adresse aussuchen, es war ihm klar, dass er die Filme nur unter falschem Namen abgeben konnte, da er ja nicht wusste, ob nicht etwas Verbotenes auf den Bildern wäre: Gewalttaten, Kinderpornos. Er hatte die Filme gestohlen, konnte sich jetzt einen Namen stehlen. Du stellst dein wirkliches Leben nach, hinter der Maske dieses Gesichts (das zufällig deines ist), hinter der Uniform deiner Kleider, der Mechanik deiner Bewegungen und Gesten kann sich genauso gut jeder andere verbergen, du kannst als irgendein anderer darunter hervorkommen.
Er schrieb, ohne zu zögern, einen Namen hin, der nichtssagend war wie der Gassenname am Praterstern, Maier, ohne Vornamen, er konnte ein Mann sein oder eine Frau. Adresse: eine Straße hier in der Nähe, Westbahnstraße, fiel ihm als erstes ein, keine Telefonnummer, das Datum. Beinah hätte er vergessen, den Abholstreifen abzureißen, bevor er das Täschchen einwarf. Würde es verlorengehen, wäre die Geschichte für ihn zu Ende, er kann zurückkehren, es wird nie mehr etwas passieren, er hat alles, was er sich wünscht, er wird (langsam, fast ohne es zu merken) alles wieder verlieren, seine Kräfte, seine Erinnerungen, seine Interessen, seine Überzeugungen, Pre wird ihn
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