Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
jedem gehören, sie ist eine wie alle, allen kann alles gehören.
Sie schaut auf die Polizisten, die neben dem Demonstrationszug herlaufen, und fragt sich, auf welcher Seite sie wohl stehen; ob sie eine Meinung haben. Ihre leeren Berufsgesichter, die Pistolen an ihren Hüften. Nach einer oder zwei Stunden ist der Demonstrationszug in die Innenstadt zurückgekehrt, die Ringstraßengebäude, Rathaus und Parlament, sandfarben leuchtend, stehen falsch und verloren wie immer unterm Abendhimmel herum, nein, noch verlorener, noch verlogener, langsam hat sich die Menschenmenge zerstreut und du fragst dich, wo sie denn alle geblieben sind, diese Fremden, zu denen du gehörst; ob jetzt noch wahr ist, was du vor fünf oder zehn Minuten erlebt hast, ob es diese Wirklichkeit noch gibt, die du und ein paar tausend andere bezeugen können, oder müssen alle zugleich vergessen, was nirgendwo, von keiner Kamera festgehalten ist? Die Fahrbahn ist voll mit Papierfetzchen, Plastikflaschen, Zigarettenkippen, Flugblättern voller Schuhspuren. Du bist wieder am Heldenplatz, allein, trotz der paar anderen, die immer noch um dich sind, einem Polizeikordon gegenüber, ganz wie am Mittag, nur dass die Demonstranten viel weniger sind, ein paar hundert Menschen, denen anzumerken ist, dass sie, so wie auch du selbst, gern durchbrechen würden, das Kanzleramt stürmen, gerade noch war es möglich erschienen, fast schon geschehen; fast schon alles umgestürzt. Flaschen fliegen, die Polizisten drängen Leute ab, sie möchte sie anschreien: Seht ihr denn nicht, was hier vorgeht? Seht ihr denn nicht, wen ihr verteidigt? Habt ihr denn keine Solidarität im Leib, seid ihr denn gar nicht beeindruckt von dieser Kraft und Euphorie? Die leeren Gesichter sind jetzt von Vollvisierhelmen verdeckt, Schlagstöcke stehen von den Körpern ab. Sie denkt, blind und stumpf würden diese Typen, die sich nicht mehr von ihren Uniformen, ihren Waffen, ihren Helmen unterschieden, für jegliche Staatsmacht ihren Dienst leisten, sie wären zu allem bereit, es kann wieder geschehen, was in diesem Land schon einmal geschehen ist, die Waffen, die Uniformen, die Handlanger, die Helme stehen bereit, sie sieht es. Du hörst dich schreien; du hast noch nie in deinem Leben geschrien. Du musst nur noch einen winzigen Schritt weitergehen und kannst dich selbst völlig vergessen, in ein anderes Leben stürzen. Du kannst in der Kraft und der Euphorie aufgehen, in einer blinden Gewalt, die nur sich selbst, nur diesen Moment kennt. Du möchtest mit deinem nackten Gesicht, deinen Fäusten, mit deinem bloßen Körper auf diese Mauer einstürmen, auf die Welt einschlagen, die für deine Euphorie gleichgültig ist, deine Freiheit nicht anerkennt. Du stellst dir einen Knüppelhieb auf deinen Kopf vor, einen Hieb, der dich fortschleudert aus dem Wirklichen, eine Pistole an deiner Stirn, einen Lärm, der alles ausfüllt: niemand dir gegenüber, dem du in die Augen schauen kannst, der dir in die Augen schaut, bevor er dich tötet, die Polizisten haben keine Gesichter mehr.
Du hörst dich schreien, dann hörst du eine Stille in deinem Kopf.
Warum beginnst du wieder zu denken, in deinem alten traurigen Rhythmus, und gehst irgendwann doch einfach nach Hause, statt der Stille immerfort das Tröten und Trommeln der Demo im Ohr, mit einem Gefühl von Überwachheit, als hättest du eine Nacht durchgemacht, zwanzig Zigaretten geraucht, fremde Männer umarmt, geküsst, ihren Geschmack eingesogen wie den Rauch und gleich wieder vergessen und anderswo neu suchen müssen, als hättest du tausend Gesichter, tausend Gespräche ganz klar im Kopf? Später glaubst du (nein, du glaubst es nicht, aber es scheint dir in irgendeiner Form geschehen), du hättest, indem du heimgingst, eine Art von Magie gebrochen und nur heraufbeschworen, was dann gekommen ist. Du bist unverletzt, trägst noch eine Art von Hoffnung in dir, die gleich, beim Blick auf die Spätnachrichten und die Internetausgaben der Zeitungen, verschwunden sein wird, die Spätnachrichten und die Internetausgaben der Zeitungen werden dir die Wirklichkeit rauben, die du eben erlebt hast, zeigen, dass dein Zeugnis und das von ein paar tausend anderen nichts zählt.
Du ziehst deine Schuhe aus. Du schaust auf den leeren Korridor deiner Wohnung, die Zimmertüren stehen offen.
Viel später, nach den Phasen von Wut und Enttäuschung, wird sie denken, dieser eine Moment am Schottenring, in dem sie sich umgeblickt hat und ganz selbstverständlich und in
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