Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
unglaublicher Weise jeder Passant zum Demonstranten und die ganze Stadt zum Schauplatz geworden ist und sie sich im Glück einer Verwandlung aufgab, war der Umsturz und die vollkommene Freiheit. Mehr gibt es nicht.
Du weißt, dass du alleine in der Wohnung bist, es ist so still hier drin, sogar wenn du das Radio, den Fernseher aufdrehen würdest, bliebe es still. Jetzt stehst du auf, verlässt dein Zimmer, auf bloßen Füßen, der Parkettboden kalt an deinen Sohlen: ein leerer Korridor, offenstehende Zimmertüren. In der Küche immer noch die Kaffeetasse, das leere Glas, die halbleere Müslischale, du hast immer noch keine Zigarette geraucht, du hast immer noch nicht gefrühstückt. Du möchtest jemanden sehen, gehst ins Zimmer deiner Schwester, obwohl du weißt, dass sie nicht da ist, und weißt, wo sie jetzt ist; würdest du den Fernseher aufdrehen, könntest du sie vielleicht sehen, irgendeinen Punkt in einer Menschenmenge identifizieren: das ist deine Schwester, das wäre sie als einzelner Mensch. Das ist kein Sehen. Du machst ein paar Schritte hin zum Fenster, im Zimmer voller Bücher dieser großen Schwester, Bücher in den Regalen an den Wänden, Bücherstapel auf dem kleinen Schreibtisch, auf dem Boden neben dem Bett, dir scheint, sie möchte das Leben aufstauen statt es zu leben, so wie alle in deiner Angsthasenfamilie, sie möchte nicht ihr eigenes Leben leben, sondern fremde Leben aufstauen, das Glück aller anderen finden und spüren, nicht ihr eigenes Glück (nicht ihre eigene Verzweiflung). Mit den Bücherwänden und Bücherstapeln in deinem Rücken stehst du am Fenster und schaust in den Hinterhof, auf die kahlen Äste des Kastanienbaums, die Papiermüllcontainer mit ihren roten Deckeln, die Mistkübel mit ihren schwarzen Deckeln, den grauen Beton. Dein Herz schlägt, als wärst du verliebt, verliebt in wen, egal in wen, in diese Sekunde hier. Du hast nur diesen Moment, du hast nur deinen Körper, mehr gibt es nicht: keine Wohnung, keinen Schutz, kein Zuhause, keine Gebäude aus Gedanken oder Stein. Woher dieser Blick, den du spürst, der dich streichelt, fast ableckt, eine Lichtzunge, süß, ekelhaft, unvermeidlich, in dieser Sekunde hier, an diesem grauen Tag, jetzt. Es ist mitten im Winter, ein grauer Tag in einer Reihe von grauen Tagen, ein guter Zeitpunkt.
Als er langsam erwachte, in seinem Bett, in das er offenbar irgendwann zurückgeschlichen war, ging sein Atem schwer und flach, als wäre es nicht Luft, die er einatmete, sondern irgendeine rauchige, halb schon aus seinem Körperinneren kommende Substanz, er wollte die Augen nicht öffnen, sich nicht erinnern, wer er war, gern spielte er mit dem Gedanken, er sei nicht mehr am Leben, so war es jeden Morgen. Pre war schon aus dem Haus; wie jeden Morgen stand er ganz plötzlich auf, trank in der Küche im Stehen einen Kaffee, las auf dem Bildschirm Nachrichten, lief, bevor er sich entschließen konnte, sich anzuziehen und (wie Pre früher gesagt hatte) den Tag zu starten , zehnmal, zwanzigmal kreuz und quer durch die Wohnung. Irgendwo lag möglicherweise eine Einkaufsliste, es gab ein Gutachten, an dem er noch herumarbeitete (herumarbeiten durfte, weil irgendjemandem vom Institut wieder mal sein Name, dieser Name von früher, eingefallen war, aber in Wahrheit schrieb sich so etwas selbst, in einer jahrzehntelang eingeübten Sprache, einem Diskurs , wie er es nannte oder genannt hatte, als er noch an die Wissenschaft glaubte, an seine spezifische Form von Wissenschaft, die eher eine Form von Diskurs , eine Form von Sprache war)( Von der Abstraktion zur Namenlosigkeit. Revolutionäre Perspektiven minimalistischer Kunstansätze der Sechziger Jahre . Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der philosophischen Fakultät der Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, eingereicht von Walter Steiner im April 19.. ) (nein, du glaubst nicht mehr an die Sprache, lange schon, aber du bist ihr dankbar, wenn sie sich selbst schreibt, vielleicht bist du auch dankbar, wenn das Gerede sich fortpflanzt und die Menschen miteinander in Verbindung hält, Argumente, Gegenargumente, Selbstbehauptungen, Lügen, besser als wenn sie sich nur stumm gegenübersitzen, um sich irgendwann einmal vor lauter Ekel die Schädel einzuschlagen) (gerne redest du an diesen langen Vormittagen, während du zehnmal, zwanzigmal kreuz und quer durch die Wohnung läufst, auch mit dir selbst)(reicht das denn aus als Verbindung?), er ließ das Gutachten liegen,
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