Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
einzuschlagen, und somit die Legitimation zu bekommen, mit aller Härte , wie es heißt, zurückzuschlagen. Aber alles ist ruhig, niemand beachtet dieses Zeug.
Ab und zu verschwindet sie in einer Gruppe von Menschen. Sie sieht aus der Ferne, wie Limousinen über die Ringstraße gelotst werden, das halbe Land sitzt nun vorm Fernseher und glotzt die Leute in Fracks und Abendkleidern an, die sich schwitzend und drängelnd die Treppe im Innern des Opernhauses hochschieben. Hinter der Technischen Universität sieht sie einen Jungen mit schwarzer Wollmütze, der anscheinend dabei ist, nach Hause zu gehen, und plötzlich von zwei Männern, die Motorradhelme tragen, angesprungen wird. Einer der Männer mit Motorradhelm schlägt mit dem Knüppel auf den Jungen ein, der andere holt mit dem Fuß aus, bemerkt dann in der Tür eines Lokals einen Mann mit einer Kamera und schreit Holt euch den da in Richtung zweier Polizisten, die, wie du plötzlich merkst, direkt neben dir stehen. Du erstarrst. Einer der Polizisten läuft zu dem Mann mit der Kamera und ruft Gib den Film her, du Drecksau, oder ich schlag dich nieder , der Mann dreht sich um und will die Tür hinter sich schließen, die beiden Polizisten laufen ihm ins Lokal nach und versuchen ihm die Kamera zu entreißen. Am Straßenrand steht ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht, der Junge mit der Wollmütze wird hineingeschubst, das Auto fährt mit quietschenden Reifen los, aus dem Lokal sind Buhrufe zu hören, die beiden Männer mit den Motorradhelmen sind nicht mit eingestiegen und kommen ihr jetzt entgegen.
Es ist ernst, ihr scheint, sie würde das erst jetzt begreifen, alles ist ernst; die Inhalte zählen nicht, die Politik zählt nicht mehr: es ist körperlich ernst. Alles kann passieren, alles, was sie bisher nur aus Zeitungen, aus dem Fernsehen, aus Geschichtsbüchern kannte, es ist körperlich ernst, nicht nur zeitungs-, fernseh-, geschichtsbuchsernst. Sie steht da und zittert, während aus dem Lokal Geschrei zu hören ist und die Polizisten, ohne Kamera in der Hand und Drohungen zurückrufend, abziehen, die Lokalgäste jubeln, die Männer mit den Motorradhelmen gehen an ihr vorbei, ohne sie zu beachten, sie ist plötzlich ganz allein auf der Straße, sie sollte in das Lokal gehen, etwas trinken, etwas essen, so tun, als würde sie etwas trinken, etwas essen, sie steht nur da.
Den größeren Demonstrantengruppen weicht Mona aus, sie läuft an den Rändern, in den Zwischenräumen herum. An einer Absperrung in Sichtweite der Oper rufen ungefähr neun vermummte junge Buben, die Fäuste reckend, rhythmisch immer wieder den ihnen gegenüber aufgepflanzten Polizeihelmen aus großer Nähe ein und denselben Satz ins Visier, Feuer und Flamme für diesen Staat , hinter ihnen schlurfen andere Demonstranten vorbei, ohne den Blick zu wenden. Ihre Gesichtshaut brennt vor Kälte, sie hüpft über auf dem Boden liegende Flaschen, geht vorbei an den vor der Albertina herumliegenden Baugeräten, lange rotweißrote Latten, übereinandergeschlichtete Absperrgitter, kein Mensch ist in der Nähe. Dann sieht sie ihre Schwester, sie erkennt sie schon von weitem, obwohl sie sie noch nie so gesehen hat (oder vielleicht einmal, vor Jahren, sie will sich nicht daran erinnern, beim Begräbnis, damals hätte sie dieses Gesicht neben sich ohrfeigen mögen, dieses Gesicht, das es aufgegeben hatte, ein Gesicht zu sein: es gibt das nicht, diese Leere, es gibt den Tod nicht, meine Liebe). Fast scheint ihr, sie ist die einzige, die diese Frau sehen kann, wie sie blicklos am Rande eine Gruppe von Menschen vorantaumelt. Sie trägt eine Lederjacke fast wie die ihre, ihr Gesicht ist weiß: Mona spürt den Impuls, sich vor ihr zu verstecken, dann merkt sie, dass das sinnlos wäre, diese Frau würde sie erst erkennen, wenn sie sich direkt vor sie hinstellte, sie anredete, rüttelte, sie ist viel weiter, als sie geahnt hat. Sie sieht so müde aus, außer sich, mit einem Gesicht wie eine Wand. So ein Gesicht möchtest du haben können. Du mit deinem Dahintanzen. Mit deinem kälteverbrannten roten Gesicht (hast du dich heute in einem Spiegel gesehen?), dem Gesicht, das schon nicht mehr das deine ist.
Plötzlich ist die Schwester nicht mehr zu sehen, sie versucht ihr zu folgen, über die Ringstraße in den kleinen Park vor der Akademie am Schillerplatz, dort kommt ihr eine größere Demonstrantengruppe entgegen, einige hundert Leute, ganz langsam fahren vollbesetzte Polizeibusse auf sie zu. Widerstand steht
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