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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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Hals trägt und deren Arme in Handschellen stecken; ihr Gesicht, aus dem die Farbe und jeder Ausdruck gewichen sind; den leeren Gesichtsausdruck, der für sie ein Lächeln, der für sie ein Lächeln für sie ist. Das ist nicht ihre Schwester und sie interessiert sich nicht dafür, wo und in welchem Zustand diese Frau morgen aufwachen wird (was heißt denn schon morgen), doch dies ist ein Tag der Spiegelbilder; die übereinandergelegten Spiegelbilder formen eine Figur. Diese Figur ist in die Welt gezeichnet, auf den Boden vor ihr, sie kann ihre Linien Zug für Zug, in der Welt verschwindend, entlangtanzen. Noch bevor die Menge sich zerstreut, muss sie handeln.
    Sie bewegt sich wie ferngesteuert, sie ist nur das Spiegelbild der Spiegelbilder oder eher noch ein Schatten, der Schatten der Schatten: ein Gesetz für jede ihre Bewegungen, ein Bein an ihrem Bein, ein Arm an ihrem Arm, so nah, wie ihr niemand kommen kann, keiner oder keine, die sie berührte, keiner oder keine, an den oder die sie sich schmiegte, mit dem oder mit der sie tanzte oder schliefe, ein Bein an ihrem Bein, ein Kopf, der sich in ihren Kopf, ein Hirn, das sich in ihr Hirn schiebt und ihm beinah entspräche; ein Kitzeln der Beinah-Entsprechung. Gleich ist sie nur noch einen Schritt von einem jungen Polizisten entfernt, der keinen Helm trägt, nur ein Käppchen, seine weißen Ohren, sein schütterer Oberlippenbart sind sichtbar. Wenn sie tanzt, in dieser Euphorie und der minutiösen Genauigkeit jeder einzelnen Bewegung, spürt sie ihren Körper verdoppelt in einer Figur, die in der Welt ist und wirklicher als nur wirklich. Die ganze Welt schlüpft in ihr Bewusstsein, ihr Bewusstsein schlüpft in ihren Körper, ihr Körper schlüpft in die Figur. Ihr Bewusstsein, ihr Körper, die Linien auf dem Boden und in der Luft vor ihr fließen ineinander und heben die Wirklichkeit aus den Angeln. Was sie genau vorhat, weiß sie nicht, sie weiß nur, es fällt ihr ganz leicht, es geht ganz leicht oder es geht gar nicht.
    Um sieben Uhr früh weckt sie ein Anruf, sie ist sich nicht sicher, ob sie gerade erst eingeschlafen ist oder Tage und Wochen verschlafen hat. Guten Morgen, entschuldigen Sie bitte den frühen Anruf, eine Frau Monica Stanek ist auf Ihre Adresse gemeldet. Meine Schwester, sagt sie mit krächzender Stimme. Ja, also dann müssen wir Ihnen leider eine Mitteilung machen, Frau Stanek (dieser Anfang erinnert sie gleich an die Fernsehkrimis ihrer Kindheit), eine Frau, die mutmaßlich Ihre Schwester ist, ist heute Nacht ums Leben gekommen. Unter Umständen, über die wir Ihnen lieber persönlich Auskunft erteilen möchten. Und dann muss ich Sie auch um eine unangenehme Sache bitten, es geht um die Identifikation der fraglichen Person – ja, haucht sie zwischendurch, ja, 11 Uhr 30, ja, auf Wiedersehen, danke, ja.
    Dann läuft sie nur noch durch die Wohnung, wie ein Tier im Käfig, und will auf alle Möbel und alle Wände einschlagen; einmal heult sie kurz auf, denselben Ton hat Mona einmal, vor viereinhalb Jahren, als die Nachricht kam, von sich gegeben; bevor sich ihr Gesicht verschloss. Sie kann nicht glauben, dass es eine Verwechslung gibt; dass Mona, wie sie manchmal träumen wollte, einfach in einen Zug gestiegen ist oder Auto gestoppt hat und nach Barcelona oder Berlin oder auch in irgendeinen völlig abwegigen Ort, wo sie der Zufall eben hingeleitet hätte, gefahren ist. Und in irgendeiner Wohnung, bei irgendeiner anderen Frau wäre ihr Ausweis zurückgeblieben. Aber hat sie denn die ganze Zeit einen Ausweis dabei gehabt? Wie sonst wüssten sie, dass die Frau (die Leiche, sie will dieses Wort nicht denken) Mona sein soll?
    Ihr Herz klopft. Sie weiß nicht, was heute für ein Wochentag ist, sie hat keine Ahnung, was gestern war und wie sie in der Nacht nach Hause gekommen ist, alles ist sehr weit weg, zugleich dringt jeder Augenblick dieses Morgens und Vormittages schwer und scharf in sie ein. Sie wird sich immer an jeden Augenblick dieses Morgens und Vormittages erinnern. Sie weiß nicht, wie sie diese Leere aushalten soll. Um elf Uhr dreißig ist sie im Gerichtsmedizinischen Institut, sie klopft an eine Tür, jemand schüttelt ihr die Hand, Monas Studentenausweis (ohne Aufkleber für das vorige Semester) wird ihr gezeigt, sie nickt, dann wird sie zu einem Lift geführt.
    In zwei Wochen, am Tag des Begräbnisses, wird sie morgens die Kamera finden und in ihre Handtasche stecken und sie dann völlig unpassenderweise und wie um sich aus dieser

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