Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
alten Esel, der besser immer auf der anderen Seite bleibt, nicht bloß hinter der Kamera, sondern vor einem Packen von fremden Fotos. Dort kann er sich bemühen, in seinen Phantasien irgendwelche Grenzen von Dezenz zu bewahren. Sich verjüngen, unsichtbar machen, mit unbestimmtem, doch umso geschlechtlicherem Geschlecht; seine wahre Gestalt, sein schwabbeliger Körper (aber bei dir schwabbelt doch nichts), sein widerlich verlebtes und vielsagendes Gesicht (aber dein Gesicht ist doch leer) ist ausgelöscht und verschwunden; sobald er, ein, sagen wir, älterer Mann, in das Bild eindringen würde, wäre es zerstört, ein älterer Mann hat in dieser Welt nichts verloren, es ist geradezu der Inbegriff eines Bildes, in dem er nichts verloren hat.
Aber was denn für Phantasien, wenn er nicht vergessen kann, dass es um eine Tote geht, eine Lebende und eine Tote, aber eben auch um eine Tote; und die Fotos ihn, so glaubt er, nur beschäftigen, weil das zu wenig ist, ein Packen mit fremden Fotos. Die Toten zurückzuholen ist das Schwerste. Der Raum und die zwei Figuren darin sind nicht zu trennen; erreichbar für ihn kann, wenn er es vernünftig, mehr oder weniger vernünftig, durchdenkt, nur der Raum sein. Dieses Haus, dieser Garten, Raum für Raum, bis hin zu einem geheimnisvollen Zentrum (aber was kann im Zentrum sein außer Leere), für ihn nicht als ihn, in dieser Geschichte kommt kein Ich vor.
Während er vor dem Computer sitzt, im Halbdämmer des Abends, in seiner Wohnung, die er zu vergessen versucht, wie er die dreißig letzten Jahre zu vergessen versucht, erinnert er sich, als würde er in der Zeit zurückgehen, an Dinge, die er früher gedacht oder zu denken vorgegeben hat, und wegen derer er sich einen Doktortitel vor seinen Namen heften hat dürfen, er erinnert sich nicht so recht daran, ob er all das je ernst nehmen hat können, seine Art von Kunsttheorie, in der es um revolutionäre Kunst als Selbstabschaffung des Künstlers ging, der seinen Namen ausstreicht und keine Bedeutung (nichts Verwertbares) herstellt , eine sogenannte Selbstausstreichung des Künstler-Ichs (der Marke Ich) , es ging doch nur um Kunst, es war doch nur sein Denken.
Für einen Moment ahnt er eine fremde, wirkliche Bedeutung, die sich, ohne dass er eine Ahnung davon hatte, in seinem Dahintheoretisieren (in seinem Kopf) verborgen gehalten hat und nun an ungeahnter Stelle ins Freie kommt; als hätte ein halbverrückter Gott oder eine unbekannte Instanz, die einen halbverrückten Gott für ihn spielt, gerade ihn gezielt diese Fotos finden lassen. Gerade ihn und gerade jetzt; gleichzeitige Schläge, gleichzeitige Öffnungen, und die Zeit bricht auf.
Er sitzt vor dem Computer und spürt die Angst wieder in sich aufsteigen, eine Angst, wie er sie vielleicht nur als Kind gekannt hat.
Sehr bald bekommt sie den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmt, die Inszenierung falsch ist und sie nur als eine der Statistinnen durch die Kulissen der Stadt taumelt; was sie und die anderen Demonstranten für Empörung oder für Begeisterung halten, wird niemand ernst nehmen, alles verflüchtigt sich in diesen Straßen, durch die sie in Gruppen oder vereinzelt ziehen; seltsame Leerstellen öffnen sich überall zwischen ihnen, manchmal hat sie Angst, irgendjemandem, der ihr entgegenkommt, ein Demonstrant, ein verirrter Passant, ein getarnter Polizist, sie kann es nicht wissen, ins Gesicht zu schauen; diesmal nicht aus Schüchternheit, sondern vielleicht weil sie ahnt, dass etwas passieren könnte, etwas, das die Inszenierung durchbricht und nicht mehr in die wirkliche Welt passt.
Ihre Hände in den roten Wollhandschuhen steckt sie tief in die Taschen der Lederjacke, sie versucht, die Grenzen der Zone zu erkunden, ab und zu bleibt sie an einer Ecke stehen, bewegt die Zehen in ihren Turnschuhen, ein Gefühl von Taubheit breitet sich in ihrem Körper aus, ein Gefühl, als könnte sie gleich aufhören, irgendetwas zu fühlen. Als wäre sie nicht erst seit kaum zwei Stunden unterwegs, sondern seit Tagen und Wochen. Hinter der Albertina fällt ihr auf, dass unbeaufsichtigt Absperrgitter und lange rotweißrotgestreifte Holzlatten herumliegen, wie dazu geschaffen, als Waffe genutzt zu werden, offenbar also, denkt sie, gezielt hier abgelegt, als Einladung für irgendwelche Idioten, damit auf Autos (teure Autos, die Mietlimousinen der Ballgäste, soweit zugänglich, oder auch beliebige andere Autos) oder Polizeiabsperrungen oder am Ende einzelne Polizisten
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